Moin Joachim, 

dem Erleben von Zeit kommen Musik und Poesie, dem Leben in kosmischen Zeiten Uhren und Mathematik näher als Metaphysik. Da wir uns über die vielfältigen Aspekte von Zeit hier wiederholt ausgetauscht haben, beschränke ich mich auf wenige Anmerkungen und beginne mit einem Zitat aus Rilkes Orpheus: 

"Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.“ 

Auch Rilke beginnt und schließt mit Fluss und Stillstand, ebenso wie Einstein mit Bewegung und Invarianz. Im Zählen und Takten kommen Arithmetik und Musik zusammen. Mit Gesang lassen sich auch Dauern bestimmen. Und in seiner „Protophysik der Zeit“ geht Janich hinsichtlich seiner konstruktiven Begründung der Zeitmessung ebenfalls von der Alltagspraxis aus. Damit bleibt Naturwissenschaft eher alltagsbezogen als Metaphysik. Die erlebte Diskrepanz zwischen Längen und Dauern wird wohl noch lange ein Geheimnis bleiben.          

IT

Am 19.08.2024 um 07:53 schrieb Landkammer, Joachim über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Könnte man nicht der (sicherlich normalerweise etwas leichtfertigen) Rede vom „Verfließen der Zeit“ trotzdem einen Sinn abgewinnen, indem man darauf verweist, daß sie eben nicht, wie für die Naturwissenschaftler, ein objektiver Rahmen, eine Hintergrundkonstante oder so etwas, sondern (auch und zumeist) eine subjektive Größe, „gelebte Zeit“, und insofern eine endliche Größe, die wenn sie nicht „fließt“, dann aber doch „verfließt“, also: schrumpft, schmilzt, abnimmt, zu „Ende“ geht? War das nicht Heideggers radikal-subjektiv-existentialistischer Rückbezug von Zeit auf „Sein“? Zeit „fließt“ dann in dem gleichen herakliteischen Sinn wie ein Fluß eben „fließt“: natürlich sind die Wasserpartikel nicht „verloren“, irgendwann kehren sie vermutlich wieder, über verschiedene Aggregatszustände, und in diesem Sinne sind wir irgendwie immer „vom gleichen Wasser umgeben“, aber doch nur, wenn wir uns ganz abstrakt-holistisch-naturalistisch, mit einem God-eye´s view, betrachten. Warum sollte man das tun? Die lebensweltliche Wahrheit ist, daß dieser aktuelle Fluß, vor dem ich jetzt stehe und in den ich steigen kann, nie mehr so sein wird wie gerade jetzt. So ist es auch mit der Menschenzeit: sie fließt eben (weg). Nicht das „alltägliche Zeiterleben ist eine Art Ideologie“, sondern anders herum: alle auf diesem primären Zeitverständnis abgeleiteten naturwissenschaftlichen und metaphysischen Zeitkonzepte sind Projektionen, Extrapolationen, Verfremdungen von dann plötzlich nicht mehr fließender, sondern stillstehender Zeit.
Hätte ich mal probehalber gesagt.
JL