Am 05.07.2024 um 14:48 schrieb waldemar hammel über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:


hallo karl,
du hast ja, wie hier festzustellen, sehr sehr sehr eigenwillige ansichten zu voltaire,
die ich mir hier leider ersparen muss zu kommentieren, weil ich sonst ein "riesenfass" aufmachen müsste

zu voltaires satz: "wenn es keinen gott gäbe, müsste man einen (für die masse der menschen) erfinden"

Durchaus und sie müssen Dir als solche erscheinen, da wir offensichtlich eine unterschiedliche Sicht auf Voltaire haben: 

Du beteuerst, immer schon ein „Fan Voltaires“ gewesen zu sein und in Vereinnahmung seiner Autorität als Aufklärer benutzt Du ihn stellvertretend (quasi als Gallionsfigur) für Deine Gegnerschaft mit diesem ELI (écrasez l'infâme). Kopierst sogar anmaßend dieseSignatur, denn Deine Frontstellung gegen Religion, Christentum und Kirche unterscheidet sich grundlegend von der Voltaires. Seine Gegnerschaft bezog sich  namentlich auf die klerikale Kaste, als den Vertretern und Statthaltern von Religion und Kirche dieser Zeit, die sich als feudale Herrscher gerierten, sich eines von Gott verliehenen Machtanspruchs dünkten und diesen gnadenlos ausübten. Deine Kritik an Religion und Kirche ist nichts als ein undifferenzierter Rundumschlag in der Art, wie sie Dein Vorbild Deschner betrieben hat.

Zu Voltaire schrieb ich zuletzt (eben die von Dir kritisch hinterfragte) Passage:

Voltaire war eben nicht von blinder, polemischer Kritik gegen Religion und Kirche besessen. Er war kein Atheist und ist daher eben kein geistiger „Weggefährte“ derer, die sich als solche bekennen und von dieser Warte aus undurchdachte oder auch polemische Kritik an Religion und den daran geknüpften Gesellschaftsformen üben.

Was an dieser Ausführung „sehr eigenwillig“ sein soll, erschließt sich mir nicht und daher erlaube ich mir, Voltaires Ansicht über Religion, Christentum und Gott aus seinen Schriften zu zitieren:

Zuverlässig besteht die Religion in Tugend und nicht in den Worten der Theologen. Die Moral kommt von Gott und ist überall gleich. Die Theologie stammt von den Menschen und ist überall verschieden. Wenn Jesus Christus heute wieder auf die Erde käme, würde er sich in einem einzigen von denen wiedererkennen, die sich den Namen Christen geben?“

 „Mit Cicero müssen wir bekennen, dass wir vom Wesen der Gottheit nichts wissen, und wir werden niemals mehr darüber wissen als er. Die Philosophenschulen reden nutzloses Zeug, wenn sie sagen, dass Gott sich im Unendlichen ausschließt, ohne sich uns zu entziehen, dass er das Erste, das Mittlere und das Letzte und dass er überall ist, ohne an irgendeinem Ort zu sein. Hundert Seiten Kommentare über solche Definitionen können uns nicht die geringste Erleuchtung geben. Wir fühlen, dass wir unter der Hand eines unsichtbaren Wesens leben: Das ist alles, und darüber hinaus können wir nicht weiter vordringen. Sinnlose Vermessenheit ist es, herausbekommen zu wollen, was dieses Wesen ist, ob ausgedehnt oder nicht, ob an einem Ort existierend oder nicht, wie es existiert und wie es wirkt.“ (Philosophisches Wörterbuch)

„Ich glaube, dass es ein intelligentes Wesen, eine bildende Kraft, einen Gott gibt. Über alles weitere tappe ich im Finstern. Heute behaupte ich eine Idee, morgen zweifle ich daran, übermorgen leugne ich sie, und jeden Tag kann ich mich irren. Alle ehrlichen Philosophen, wenn sie einmal von der Leber weg sprechen, haben mir gestanden, dass es ihnen nicht anders gehe."“
„Atheismus ist vielleicht nicht so verderblich wie Fanatismus, aber der Tugend ist es fast immer abträglich.“ 
„Noch einmal, lasst uns Gott verehren, ohne in seine Geheimnisse eindringen zu wollen.“ (Voltaire: Philosophische Briefe)

In diesem Kontext also können wir gerne nochmal über dieses Thema diskutieren.

Joseph hatte noch eine Frage an mich gerichtet und zurecht beklagt, dass ich sie noch nicht beantwortet habe: 

jh: „ Jetzt habe ich KJ vergessen: An ihn gerichtet: Kann der wahre Glaube mithelfen? Geht es ohne Missionierung? Ohne Bekämpfung der Lasterhaften und Religionsbeschmutzer? Auf jeden Fall soll das Wort Ideologie vermieden werden, sonst beißt sich der Hund in den Schwanz und dreht im Kreise.“

Diesbezüglich bleibt mir nur zu fragen: Was ist „wahrer Glaube“ oder anders herum: Gibt es unwahren Glauben? Dazu hatte ich hier geschrieben, dass ich schon als Jugendlicher gebetet hatte: Gott, lass' mich nicht an dich glauben müssen, sondern von dir überzeugt sein lassen. Heute ist dieses Gebet obsolet, da ich definitiv nicht mehr an diesen (kindlich) so gedachten Gott glaube (s. mein Bonhoeffer-Zitat), vielmehr immer wieder damit zu kämpfen habe, mir ein zeitgemäßes, mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen zu vereinbarendes Bild von eben diesem intelligenten Wesen (Voltaire) oder eben von dieser solchermaßen hier oft so von mir benannten kosmischen Intelligenz zu schaffen.

Im Wesentlichen steht „Glauben“ für die Annahme von Menschen, es würde eine „höhere Macht“ existieren, die diese Welt erschaffen und ihr somit implizit Sinn und Bedeutung verliehen hat. Wie ich wiederholt schon schrieb, kann es kein Wissen von einem solchermaßen angenommenen Gott geben, somit bleibt nur die Annahme, resp. der Glaube an ein derartiges Wesen. Mir persönlich geht es um die Annahme, resp. die Überzeugung und insoweit geht es ohne „Missionierung“ und ohne Bekämpfung der „Religionsbeschmutzer“, denn diese nicht an blinden Glauben gebundene Überzeugung von einer transzendentalen Wesenheit, eben diesem intelligenten Wesen als bildende, also schöpferische Kraft, wie es Voltaire benannte, kann nur aus einem zutiefst persönlichen Erspüren erwachsen: „God is a feeling“ - Allgeborgenheit.

KJ