Lieber Ingo (jetzt wieder im Süden Deutschlands),

mein ehemaliger Chef Ken Holmes hat - gemeinsam mit meinem Doktorvater Roger Goody  viel am DESY gearbeitet ( https://de.wikipedia.org/wiki/Kenneth_Holmes ). Dem Thema der Selbstorganisation sind wir im Zusammenhang mit oszillierenden Multi-Enzymsystemen nachgegangen ( https://www.researchgate.net/publication/297148923_THE_KINETIC-PROPERTIES_OF_ADENYLATE_KINASE_-_A_CELL-BIOLOGICAL_INTERPRETATION ).



Jetzt aber zu einem Problem, das mich umtreibt: was für eine Energie ist es, die als „energetically“ von Alicja Juarrero beschrieben wird?

Diese Energie bezieht sich auf die Bildung von Kohärenz. Dynamisches Kohärieren besteht in koordiniertem, stimmigem Zusammengehen. Die Energie ist also eine solche, die sich auf systemische Koordination bezieht. Sie ist von vornherein System-bezogen. Das heißt, die Präsenz und System-bezogene Aktivität mindestens eines weiteren Elements ist vorausgesetzt. Die Aktivität dieses anderen Elements ist in dem Energiebegriff mitgedacht, er bezieht sich auf die Strukturaspekte der Interaktion mindestens zweier Elemente. 

Diese Strukturaspekte wiederum sind nicht mit ihrem absoluteen Gegenteil, der allumfassenden Unstrukturiertheit zu kontrastieren. Sie sind auch nicht zu quantifizieren. Es geht um ein nicht skalierbares Eigen- und Jeweilig-Sein der beobachteten Interaktion. Diese transzendiert notwendig das Eigen- und JeweiligSein der einzelnen Elemente, ohne es aufzuheben.

Das strukturierte Aufeinander-Bezogen-Sein der Elemente ist beschreibbar, aber, wie gesagt, nicht zu skalieren. 

Was soll man dann aber mit dieser Struktur-Energie anfangen? Sie ist ein Beschreibungsmittel für qualitative, eben Strukturierungs-Aspekte, so, wie in Chemie und Biologie nicht nur quantifizierend, sondern identifizierend-beschreibend gearbeitet und nach qualitativen Kriterien unterschieden wird. 

Die Beschreibung wiederum, und hier liegt das Problem, kann nur in Form der Wiedergabe eines Dynamik sein, einer Interaktionsdynamik und deren Spezifik. Zum Beispiel als harmonisches Zusammenklingen, oder als Disharmonie. Das Gegenteil ist hier nicht Rauschen, noise, sondern eben eine Disharmonie.  Eine Abbildung in anderen Formen muss verlebendigt, dynamisiert werden, um in Analogie zum Beschriebenen wirken zu können.

Zurück zur Kohärenz-Energie: ihr Wirken erzeugt, betreibt und bestärkt die Inhomogenität des Raumes, die Inhomogenität der Zeit, und die Anisotropie des Raumes (Richtung spielt eine Rolle) - also das logische Gegenteil dessen, was im Noether-Theorem vorausgesetzt wird. Sie partikularisiert, bestärkt und führt zu Eigen-Dynamiken in Form strukturierter Interaktionen. 

Ich habe keine Ahnung, ob das etwas mit dem von Dir Zitierten zu tun hat: ….Verbindung der Transporteigenschaften von Einzelteilchen mit dem kollektiven Verhalten, welches aus deren Interaktion resultiert. Dazu werden Gleichungen für Observablen ausgehend von teilchenbasierten Modellen abgeleitet, wodurch die Verknüpfung der Dynamik auf verschiedenen Längen- und Zeitskalen sowie unterschiedlichen Komplexitätsstufen ermöglicht wird.“ 

Teilchenbasierte Modelle - agency-based dynamic . . ist das miteinander verwandt?

Wenn man auf Interaktions-Dynamik reflektiert, muss der je „Andere“ je von dem „Einen“ „erkannt“, „gesehen“, „wahrgenommen“ werden, und eine Symmetrisierung / Harmonisierung muss die zu vergemeinschaftenden Aspekte des „Anderen“ in das „eigene“ Vorgehen integrieren - ich benenne / beschreibe das als Interpretation - und zwar mit Beginn von kohärenter Interaktion, nicht erst auf der Ebene von Lebewesen. 

So viel nicht auf die Schnelle, aber so gut ich es hinkriege, ich bin gespannt auf Deine Antwort, vielleicht hilft sie mir im Grübeln ja weiter?

viele Grüße

Thomas









Am 13.11.2023 um 12:02 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:


Moin Thomas, 

ich verzettele mich zunehmend im Zusammendenken der vielen Ansätze. Bezogen auf die DKS hatte ich Dich nicht missverstanden, da Du Dich hinreichend als Mythologe geoutet hattest. Dem entspricht Deine Sicht, „die beobachtete Materialität“ als Illustration oder Verwirklichung auf „das Wunder des Kohärierens“ zu beziehen und „Liebe als gelingende Fügung“ aufzufassen. Statt „Glaube, Liebe, Hoffnung" liegen mir natürlich „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" näher. Schiller war leider zu früh gestorben, um mit seinen Philosophien der Freiheit und der Liebe voran zu kommen. Ich halte es eher mit Sartre, der Liebe ja als sinnlose Leidenschaft ansah; heiße Liebe doch, eine Freiheit besitzen wollen. 

Ich verstehe die DKS im Kontext der Synergetik und die Kohärenz nicht als Wunder, vielmehr dem Haken-Theorem genügend. Metaphorische Überhöhungen liegen mir fern und so schaue ich, wie weit methodische Konstruktionen aus dem Alltag heraus weiter geführt werden können. Vielerlei Aspekte dazu, "How Constraints Create Coherence“, hat Alicia Juarrero kürzlich zusammengeschrieben in: "Context Changes Everything“, MIT Press 2023. Darin behandelt sie DKS und Synergetics ebenso wie den Veteranen der Biophysik, Howard Pattee, den ich noch nicht kannte. Juarrero’s Fazit fällt erfrischend nüchtern aus: „What can we conclude from all this? Tearing down happens naturally. Creating coherence is an energetically costly process: it takes a burst of entropy for context-dependent constraints to irreversibly produce emergent coordination dynamics.“ 

In seinem Kommentar "Symbol Grounding Precedes Interpretation“ zu der Arbeit Deacon’s "How Molecules Became Signs“ hebt Pattee hervor: "Deacon speculates on the origin of interpretation of signs using autocatalytic origin of life models and Peircean terminology. I explain why interpretation evolved only later as a triadic intervention between symbols and actions. In all organisms the passive one-dimensional genetic informational symbol sequences are converted to active functional proteins or nucleic acids by three-dimensional folding. This symbol grounding is a direct symbol-to-action conversion. It is universal throughout all evolution. Folding is entirely a lawful physical process, leaving neither freedom nor necessity for interpretation. Similarly, the initial converse action-to-symbol conversion of sensory inputs also leaves no freedom for interpretation until after the action-to-symbol conversion.“ 

Der Streit um die Ursprünglichkeit und die Freiheit in der symbol-to-action bzw. action-to-symbol conversion wird wohl noch lange anhalten. Ich sähe eine Auflösung des Dissens natürlich tieferliegend in der Statistischen Physik, wie sie bspw. Hans Großmann 2016 in seiner Diss. vorgelegt hat:  "On nonequilibrium statistical physics of self-propelled particles -- from single-particle transport to emergent macroscopic patterns“. KURZFASSUNG: „Die Strukturbildung von aktiver Materie ist ein Musterbeispiel für Selbstorganisation fernab des thermodynamischen Gleichgewichts. Unter aktiver Materie versteht man komplexe Systeme, welche aus selbst-angetriebenen Teilchen bestehen, die über die Fähigkeit verfügen Energie aus ihrer Umgebung in Bewegungsenergie umzuwandeln. Die vorliegende Arbeit trägt zur theoretischen Beschreibung von aktiver Materie bei. Das Hauptanliegen ist die Verbindung der Transporteigenschaften von Einzelteilchen mit dem kollektiven Verhalten, welches aus deren Interaktion resultiert. Dazu werden Gleichungen für Observablen ausgehend von teilchenbasierten Modellen abgeleitet, wodurch die Verknüpfung der Dynamik auf verschiedenen Längen- und Zeitskalen sowie unterschiedlichen Komplexitätsstufen ermöglicht wird.“ 

Mehr als mythologischer Wunderglaube fasziniert mich das rationale Verständnis der Strukturbildungen von aktiver Materie, die aus den konformen Reskalierungen der Äonen bis hinunter zu den schwach wechselwirkenden Teilchen, nach denen als Urheber für die Dunkle Materie bei DESY gefahndet wird, denn "feebly Interacting Particles (FIPs) might offer the solution to (some of) the open questions beyond the Standard Models of particle physics and cosmology. At DESY in Hamburg, three non-accelerator-based experiments will search for FIPs as dark matter candidates (ALPS II, BabyIAXO) or constituting the dark matter in our home galaxy (MADMAX).“ Quelle: "The DESY axion search program“ by D. Heuchel et al. 2023.

IT


Am 12.11.2023 um 19:35 schrieb Dr. Dr. Thomas Fröhlich <dr.thomas.froehlich@t-online.de>:

Lieber Ingo,

damit ich nicht missverstanden werde:

dass Leib und Seele eine konvergierende Einheit kohärierender Vorgangsmengen sind, besagt noch nichts über das Wunder des Kohärierens an sich, im Sinn der jeweiligen Möglichkeit der Selbsttranszendenz hin zur Aufnahme von Aspekten des je anderen Vorgehens, und eines Hingeordnetseins kohärenzfühigen Vorgehens zu anderem Vorgehen, des ordinatur ad…  wie es bei Thomas von Aquin heißt.

Auf dieses Wunder kann man reflektieren, und die tatsächlich wieder und wieder erreichte Passung kann man in verschiedenen Begriffen zu fassen versuchen, und einer davon ist Liebe, als gelingende Fügung.

Die beobachtete Materialität steht in dieser Auffassung nicht gegen die Meta-Ebene der Passung, Fügung, des Wunders des Zusammenhängens, sondern bestätigt es in jedem Einzelnen als eine von deren möglichen Verwirklichungen.

Im dekontextualisierenden Vorgehen des Experiments und auch des sprachlichen Heraushebens geht dieser Blick auf das grundsätzliche Wunder leicht verloren.

Wenn man auf den Ordnungsaspekt abhebt, ist der Begriff Psyche im erweiterten aristotelischen Sinn angebracht, und mit diesem der Begriff Geist - aber eben nicht als vom Stoffflich-Leiblichen Abgehobenes, sondern als gedanklich Herauszuhebendes.

Viele Grüße,

Thomas


Am 11.11.2023 um 12:03 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:


Am 11.11.2023 um 02:07 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Warum sollte ich Äquivalenzrelationen, bzw. -klassenbildungen ignorieren, Ingo? Meine Neigung, insbesondere der hier im Kontext von Metaphysik diskutierten Themen bestimmte Zusammenhänge paraphrasierend darzulegen, geschieht in der Absicht, diese durch derart angelegte Abstraktion auf einfachere, lebenspraktische Weise auszudrücken. Paradoxerweise kann das gelegentlich zu mehr Verwirrung führen, als man diese durch diese Art des Abstrahierens vermeiden will.  


Moin Karl, 

Du hattest geschrieben: „Wer also sollte mit hinreichender Objektivität hier entscheiden, ob „Geist und Materie überflüssige Metaphern oder bloße Abstraktionen sind, wie Du dies zuletzt nun konstatierst. Ich frage mich, mit welchen Begriffen sonst sollte man die objektiv gültige Tatsache der Existenz von Materie und damit die Benennung selbiger belegen, steht sie doch als Inbegriff von Raum einnehmender Masse. Was ist daran Metapher, was Abstraktion?“ Dabei ist nicht die Existenz der Materie eine objektiv gültige Tatsache, sondern die Existenz des Elektrons bspw. Du benutzt die Gegenüberstellung von Geist und Materie offensichtlich in der ideologischen Absicht, so wie angeblich Materie auch Geist  als objektiv gegeben ausweisen zu können. 

Ebenso wie das Objektivieren ist Wissenschaft insgesamt menschengemacht. Und Du fragtest doch explizit nach Abstraktion, obwohl wir das Abstrahieren seit 25 Jahren vielfach behandelt hatten. Ebenso hält es JH bspw. mit dem angeblichen Henne-Ei-Problem und RF sieht „nicht, wie man durch das Abstraktionsverfahren von IN auf IR kommt“, obwohl ich im Kommentar zu meinem Text mit Verweis auf das ebenfalls wiederholt erwähnte Buch „Differential und Integral" von Paul Lorenzen 2001 schrieb: „Konvergente Folgen z.B. koennen auch Aequivalenzklassen bilden.“ Viele philosophische Probleme erwachsen schlicht der Ignoranz alltags- wie laborpraktischer Bezüge.  

Wie sollen wir hier weiter kommen, wenn Gewohnheit und Ignoranz dominieren? Auch global erschweren Gewohnheit und Ignoranz jeglichen gesellschaftlichen und persönlichen Wandel. Wenigstens hier im Kleinen könnten wir es besser machen, treten aber zumeist auf der Stelle. Du fragst zugleich „Was ist daran Metapher, was Abstraktion?“ und „Warum sollte ich Äquivalenzrelationen, bzw. -klassenbildungen ignorieren?“ Mir erscheint das absurd. Aber Absurdität gehört zur Philosophie — und auch das hatten wir schon wiederholt festgestellt. Vielleicht sollte ich über Deine Beiträge eher lachen anstatt sie ernst zu nehmen. 

Interessant demgegenüber der Schlusssatz aus dem von Thomas verlinkten Artikel: "The mind increasingly appears to be a particular manifestation of certain energized material forms. The conceptual path leading from physical to mental may finally be opening up.“ 

IT


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