Am 03.11.22 um 12:04 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb:

Karl schrieb: Bei allem bislang hier zum Zufall Geschriebenen fragt sich, warum überhaupt nach echtem und scheinbaren Zufall unterschieden werden soll, wenn doch lebenspraktisch und auf technologische Relevanz bezogen, hinreichende Werkzeuge zur Erzeugung von Zufallszahlen verfügbar sind. …

Für mich war die folgende Absatz bestimmt:
Die Radioaktivität vermittelt mir nach wie vor ein Gefühl des Geheimnisvollen und den Ansporn, noch möglichst lange die Forschungen dazu bedenken zu können. Warum hast Du sie in Deinen weitschweifigen Ausführungen zum Zufall ignoriert?  

Das ist eine gute Frage, weil du deine Motivation angibst, müsste ich nun auch meine Motivation angeben. Motivation ist ein hier nicht erforderliches Thema. Denn der eine sieht in seinem Unglück die Motivation, der andere in seinem Eifer am Morgen, der dritte im Rausch, der Kunst, sogar der Religion, der Wissenschaft, es gibt bei dieser Reihe von Wörtern vermutlich kein Ende. Nun antwortete Nietzsche in etwa: Es genügt schon, sich selbst umherzutragen, ich kann nicht auch noch meine Gründe mit mir mitschleppen. Das zur Motivation.

Die zweite Antwort zur Sache ist die, die du auch kennst, und um ein Hochmultiples besser als ich und alle Links zusammen, die ich schicken könnte. Ich lese gerade, dass immer noch darüber debattiert wird, und dass es sein könnte, "dass der Quantenzufall von einer vollständig deterministischen Theorie abgelöst werden könnte, wonach es keine unverursachten Ereignisse gibt." (Unter Anführungszeichen zitiert.) Ich würde wegen dieser Unsicherheit und wegen meinem Mangel an Wissen möglicherweise falsch liegen, wenn ich sagen würde: Den echten Zufall gibt es in Reinstform beim radioaktiven Zerfall.

Es gibt noch einen anderen Grund, wieso ich nicht auf den Quantenzufall verweise. Auch von der Definition des Zufalls her, "Von Zufall spricht man, wenn für ein einzelnes Ereignis oder das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse keine kausale Erklärung gefunden werden kann." Sicher kannst du die Wahrscheinlichkeit errechnen, wann der Dachziegel mir auf den Kopf fällt, mit Berücksichtigung der Windstärke usw. Nur hier stelle ich dann die Rückfrage: Was für einen Zufall ergibt denn der Quantenzufall? Vermutlich der Zufall, der genau den Zeitpunkt beschreibt, und das ist eine Zahl, du kannst die Zeit noch so genau messen wie du willst, dann ist dies zugegebermaßen ein Zufall. Wenn wir sicher sind, dass der Ziegel bei einer genügenden Windstärke herunterfällt, dann ist der genaue Zeitpunkt, die Zahl, die sich dann ergibt, bestimmt auch eine Zufallszahl. In anderen Worten: Ich in meinem einfachen Verständnis brauche keinen vom Atomzerfall erzeugten Zufall, ich hoffe ihn auch nicht zu erleben, wenn ich "zufällig" unter einem Dach stehe. Stochastisch kannst du im Nachhinein auch sagen: Es werden Personen vom Blitz getroffen, oder von den vorbeilaufenden Strömen, aber der Zeitpunkt entspricht einem Zufall. Und damit schließt sich der Kreis zur Motivation, würde Karl sagen, und ich könnte vor dem Gefühl des Geheimnisvollen unter dem Dach verharren...

Der dritte Grund liegt in der Komplexität der möglichen Definitionen von Zufall. Wenn "keine Erklärung gefunden werden kann" passt eher auf mich: Ich finde fast nie eine vollständige Erklärung, und sollte vielleicht sagen, dass für mich Zufall ist. Also auf Grund der Komplexitität der möglichen Definitionen brauche auch ich "den Zufall" nicht so genau zu denken. Noch was: Wenn diese Wikipedia-Definition stimmen würde, dann wäre Zufall abhängig wie vorhin angedeutet von der Fähigkeit der Person zu kausalem Verstehen. Schon die Fähigkeit, die Objektpermanenz zu erkennen, beginnt sehr früh im Leben der Personen, auch einiger anderer Tiere, so auch die Unterscheidung Zufall und Kausalität. Ein Hund weiß ganz genau, dass er den Bösen angreift, wenn er aber von einem Stein verletzt wird, sieht er keinen Grund, gegen diesen vorzugehen. Wahrscheinlich wäre zu untersuchen, welche Tiere die Fähigkeit nicht haben, die Objektpermanenz zu erkennen, und doch schon das zufällige Unglück oder gar Glück zuordnen können in den Zufallsbereich vs. den Kausalbereich.

> Die Annahme einer Dekohärenz von Quantensystemen ist ja nur eine von vielen Interpretationen. Was nimmt Dich für sie ein? Und wie hältst Du es mit der Arbeit von Pusey et al. aus meiner Mail vom 30.10:  "On the reality of the quantum state“? Im Gegensatz zum informatorischen scheint Dir ein realistischer Blick auf die QM schwer zu fallen. Dabei handelt es sich bei Pusey et al. immerhin um ein no-go-theorem, das Dich herausfordern sollte: "We show that any model in which a quantum state represents mere information about an underlying physical state of the system, and in which systems that are prepared independently have independent physical states, must make predictions that contradict those of quantum theory.“

Das alles übersteigt meine Kenntnisse, als Beispiel, denn ich glaube, das schriebst du eher für Karl, und vorhin habe ich gezeigt, dass ich in dem Fall mit wenig Wissen auskomme.

Weitschweifig sind meine jetzigen Ausführungen nicht, es bedurfte jedoch mehrerer Sätze, und ich hoffe, du bist kein Journalist, der auf komplexe Fragen eine schnelle Antwort erwartet. Andererseits konnte ich es nicht anders, wieder ist meine Unfähigkeit im Spiel. Es ist aber auch überall oft so, dass noch so viele Sätze ihren Zweck nicht erfüllen.

JH