Moin Karl, 

Du mahnst „ein interdisziplinäres Herangehen an grundsätzliche Fragen zu „Gott und Welt“ an und verweist dazu auf Einstein: "Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.“ Bei Kant hieß es noch: „Gedanken ohne Inhalt sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Deine zeitgemäße Umformulierung lautet: „Naturwissenschaft ohne Philosophie ist unvollkommen, Philosophie ohne Naturwissenschaft ebenso.“ 

Mir missfällt bereits die weit verbreitete und vielfach wiederholte Formulierung: „Gott und Welt“. Warum gleich mit einem religiösen Vorurteil beginnen und nicht schlichter mit: „Mensch und Welt“? Wie die Kriege und Konflikte seit Menschengedenken zeigen, ist es schon schwer genug, alle Menschen als solche anzuerkennen. Und die Welt zerfällt natürlich sogleich in Lebenswelt und Weltall. Bei Kant hieß es noch: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Der bestirnte Himmel ist schlicht vorhanden, das moralische Gesetz aber zu begründen. 

Im Marz 1936 erschien in der Zeitschrift "The Journal of the Franklin Institute“ der Aufsatz Einsteins: „Physik und Realitat". Im einleitenden Kapitel Allgemeines über die wissenschaftliche Methode grenzt sich der Kosmologe vom Psychologen ab, geht aber aus vom gleichermaßen erlebten Alltagsgeschehen: „Alle Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags. Damit hangt es zusammen, da die kritische Besinnung des Physikers sich nicht auf die Unterweisung der Begriffe seiner besonderen Wissenschaft beschränken kann, sondern da er an der kritischen Betrachtung des viel schwierigeren Denkens des Alltags nicht achtlos vorbeigehen kann. Auf der Bühne unseres seelischen Erlebens erscheinen in bunter Folge Sinneserlebnisse, Erinnerungsbilder an solche, Vorstellungen und Gefühl. Im Gegensatz zur Psychologie beschäftigt sich die Physik (unmittelbar) nur mit den Sinneserlebnissen und dem Begreifen des Zusammenhangs zwischen ihnen. Aber auch der Begriff der realen Außenwelt des Alltagsdenkens stützt sich ausschließlich auf die Sinneseindrücke.“  

Die meth. Konstr. haben im Anschluss an Einstein ja von einer Hochstilisierung der Lebenspraxis geschrieben sowie schrittweise und zirkelfrei die sprachlichen und handwerklichen Grundlagen des mathematischen, technischen, historischen und politischen Wissens erarbeitet. Von Geist und Natur, Religion und Metaphysik muss also nicht ausgegangen werden. Für die Geisteswissenschaften hatte Dilthey ja als Gegenentwurf zu den im 19. Jahrhundert erstarkten Naturwissenschaften argumentiert. Ebenso steht für Janich „der in einer propositionalen Sprache als Abblild der Welt beschriebene naturgesetzlich reagierende Organismus der zwecksetzungsautonomen Person mit ihrer auffordernden Sprache der Kooperation gegenüber.“ 

Für Kulturalisten bedingen Naturgesetzlichkeit und Zwecksetzungsautonomie einander und Du siehst beide Aspekte als jeweils unvollkommen an. Hinsichtlich der Alltagsverfeinerung scheint mir ein Vollkommenheitsanspruch allerdings überzogen; ist doch die Wirklichkeit zumeist eine Parodie der Idee. Ein Ausspruch Goethes, der mich immer wieder erheitert. Und so lass uns den Bogen spannen von Kant bis Feyerabend, von den Lebenswelten der Romantiker im Schlegelkreis zu Jena (die sich mit Fichte und Schelling an Kant abarbeiteten) über die Bloomsberries in London, die Existenzialisten in Paris bis hin zu den Hippies in Berkeley (die Feyerabend inspirierten). Was bestimmte ihre jeweiligen Lebenspraxen und wie bewältigten sie sie? Was wirkt bis heute nach und wo gibt es gegenwärtig ähnlich interessante Lebensgemeinschaften? 

Wer noch nichts von den Bloomsberries gelesen haben sollte: Die Keimzelle des um Virginia Woolf gebildeten Bloomsbury-Kreises bildeten die von Thoby und Vanessa Stephen 1905 ins Leben gerufenen wöchentlichen Diskussionsrunden am Donnerstag und Clubabende am Freitag. Die aufgeklärten Humanisten und experimentierfreudigen Freidenker sollten aus den regelmäßigen Zusammenkünften und Veranstaltungen eine Bewegung werden lassen, die nachhaltig die hinterweltliche viktorianische Gesellschaft zu überwinden trachtete: "Bloomsbury became synonymous with avant-garde art, formalist aesthetics, libertine sexuality, radical thinking, rational philosophy, progressive anti-imperialist and feminist politics, conscientious objection during Great War, and antifascism in the 1930s.“

Das intellektuell snobistische Milieu der elitären society of Cambridge Apostles, in denen die Brüder Stephens verkehrten, stand wesenlich unter dem Einfluss der beiden herausragenden Gelehrten und Intellektuellen G.E. Moore und Bertrand Russell: „The Bloomsbury Group included Lytton Strachy the critic and iconoclastic biographer of Eminent Victorians (1918) and Queen Victoria (1921); the art critics Clive Bell and Roger Fry, who introduced modern art to Britain in 1910 with their Post-Impressionist exhibition and who developed highly influential formalist theories of art; the influential radical economist John Maynard Keynes; and Leonard Woolf, left-wing political theorist and publisher. Also in the circle were the drama critic Desmond Mac-Carthy, the novelist E.M. Forster, the painters Duncan Grant and Vanasse, and Adrian Stephen, Virginia's brother, an ardent pacifist who also dedicated himself to the advance of psychoanalysis."

IT


Am 01.02.2024 um 01:58 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Nun gut, Philosophie als grundsätzlich wirklichkeitsfremd zu werten, mag Deiner Einschätzung entsprechen, ob diese jedoch einer allgemeingültigen Beurteilung gleichzusetzen ist, würde ich bezweifeln wollen. Immerhin schränkst Du ja ein und so wäre Philosophie zumindest zu einem kleinen Teil nicht wirklichkeitsfremd. Aber was ist nun Philosophie wirklich und was bedeutet Wirklichkeit?

Wir hatten hier vor einiger Zeit darüber diskutiert und ich denke, wir haben zureichenden Konsens darüber erzielt, dass Wirklichkeit als ein Ganzes nicht unmittelbar zu erfassen ist, anders als die sinnlich wahrnehmbare Lebensrealität oder Realien (wie Waldemar Realität zuletzt benannte). 

In diesem Zusammenhang hattest Du auf die Arbeiten von Ruth E. Kastner hingewiesen, die als Physikerin und Wissenschaftsphilosophin zum subempirischen Bereich forscht und dabei gewissermaßen an eine Türe der nichtphysischen Welt gelangt ist, die nicht mit den klassisch empirischen Werkzeugen zu öffnen ist. Die üblichen wissenschaftlichen Methoden von Messung und experimentellem Nachweis versagen also und somit kann Wirklichkeit als solche nicht erkannt werden. 

Soweit zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis und ihren Grenzen. Diese Grenzen nichtempirisch zu überschreiten, ist Anliegen und Mission der Philosophie und insoweit mag Philosophie wirklichkeitsfremd sein, wobei der Begriff von wirklichkeitsfremd eher der Vorstellung von Lebens. bzw. Realitätsfremdheit entspricht, da auch Philosophie nicht die Wirklichkeit an sich zu ergründen vermag.

R. E. Kastner ist Possibilist und Du bezeichnest Dich ebenso als solcher. Vermutlich auch wegen Deiner Leidenschaft für science fiction. Warum auch nicht, denn wer sich mit Zukunftsgedanken befasst, muss sich unweigerlich mit der Frage nach der Fortentwicklung von Welt und Kosmos auseinander setzen. 

Frei von Restriktionen des Determinismus fühlt sich der Possibilist berufen, sein Denken und Handeln an der in tragenden Natur auszurichten. Das lässt mich an unsere Diskussionen zum sog. Freien Willen denken. Als Possibilist müsstest Du dem Kompatibilismus und damit der Vorstellung von Determinismus im Sinne von durch Kausalketten verursachten Geschehnissen zusprechen. Sofern dies für Dich zutrifft, liegen wir diesbezüglich nicht so weit auseinander, trotz der stets aufs Neue hochkochenden Diskurse zum Themenkreis von Metaphysik (als Teilgebiet der Philosophie), geschweige denn zu Religion. Was letztere anbelangt, wäre mir Dein Mißtrauen mir gegenüber verständlich, nämlich dann, wenn Du als Possibilst dem Leitspruch des Johann Casper Lavater folgen würdest:

Werde Possibilist! Misstraue jedem, der alles gut findet, und dem, der alles für schlecht hält, noch mehr aber dem, dem alles gleichgültig ist.“

Richtig verstandene und gelebte Religion lässt Menschen zwar nicht alles, jedoch eine von Gott geschaffene Welt gut finden. Dieses unbenommen der Theodizee, ein von Leibniz beschriebenes Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts der in der Welt hervortretenden Übel: Was ist der Ursprung dieser Übel, wo bleibt Gottes Güte und Allmacht, wo die Freiheit des Menschen? 

Es geht um die Freiheit des Menschen, eine Freiheit also, die Dir als „Ideologiekritiker“ in heutiger Zeit die Möglichkeit gibt, berechtigte Kritik an fixierten Denkmustern und Dogmen der Theologie, wie auch an fragwürdigen Auswüchsen metaphysischer Betrachtungen zu üben. 

Ich sehe diese Fehlentwicklungen jedoch nicht als Vorurteile, sondern als überkommen bornierte Leitvorstellungen, die zu Vorurteilen und Verurteilungen führen. Irritierend wirkt auf mich, dass Du mir eine derartige Denkweise zuschreibst („blinder Glaube“) und ich kann es mir nicht anders erklären, als Du entweder nicht durchschauen kannst, was ich diesbezüglich hier schreibe, oder es nicht wahrhaben willst. Als Katholik bin ich offenbar von vornherein und unbesehen Deiner Ideologiekritik ausgesetzt und das undifferenziert in Gänze. 

Das ist es in der Tat, was mir missfällt und ich sehe mich im Recht dazu. Davon unbenommen seien Vorurteile, die ich zweifelsohne hege und nicht ohne weiteres ablegen kann. Damit befinde ich mich offenbar im breiten Spektrum der Gesellschaft.

Sehe ich  über die vergangenen Jahre hinweg auf unsere hier geführten Diskussionen in Bezug auf Religion, insbes. auf das von ihr vermittelte und geglaubte Gottesbild, haben diese Diskurse bei mir definitiv zu einem kritischen Hinterfragen desselben geführt, wie es bis heute nahezu jeder Austausch hier bewirkt.

Schaue ich zurück, könnte ich mich am Ende selbst nicht mehr erkennen und das ist doch Sinn und Zweck von menschlicher Kommunikation als Korrektiv. Damit sei nicht gesagt, dass man sich von jedem Windhauch die Segel verdrehen, also seine grundsätzlichen Überzeugungen nehmen lassen sollte. 

Nach diesem Exkurs in die Subjektivität individueller Voreingenommenheit nun noch zu Badious an Mathematik ausgerichteter Ontologie, insbes. seines Beitrags zur Philosophie.

Entscheidend dabei ist offenbar seine Forderung, dass das Denken des Menschen die Beschränkung durch Sprache durchbrechen muss und kann, um die Lebensrealität von jenen Sprachstrukturen abzutrennen, die einer unzulänglichen Projektion auf eben diese entspringen. Denn das ist eigentliche Ursache für Vorurteile und nicht eine wirklichkeitsfremde Philosophie. Wenn Heidegger sagt, Wissenschaft könne nicht denken, will er offenbar Kritik daran üben, dass die Ambition der Wissenschaft, die Wirklichkeit hinter der messbaren, sichtbaren, empirisch erfassbaren physischen Welt zu suchen und zu ergründen, zum Scheitern verurteilt ist. 

Badiou sieht das anders und glaubt, dass Wissenschaft die wesentliche Domäne des Kulturwesens Mensch ist, in der sich wahres Denken entfalten kann. Ich bleibe diesbezüglich bei der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft und sehe wahres, ganzheitliches Denken vornehmlich in letzterer vertreten. Daher ist es so bedeutsam, dass sich baldmöglichst ein interdisziplinäres Herangehen an grundsätzliche Fragen zu „Gott und Welt“ entwickelt, ganz im Geiste Einsteins, bzw. in Anlehnung an sein berühmtes Postulat:

"Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind." Allerdings zeitgemäß umformuliert: 

Naturwissenschaft ohne Philosophie ist unvollkommen, Philosophie ohne Naturwissenschaft ebenso.

Das gilt selbstredend auch für Religion (als Themengebiet der Metaphysik gesehen) und da trifft dann auch die Kritik vom blinden Glauben.