„Im Namen der Wahrheit“, „Im Namen des Gesetzes“, „Im Namen Gottes“ und so fort. Hehre Grundsätze, denen zufolge unvorstellbares Leid über Welt und Mensch gekommen ist und, hochaktuell beispielhaft, einem pseudoreligiösen Fundamentalismus geschuldet, weiterhin kommt.
Waldemar, alles was Du in Deiner Replik auf RF's Frage schreibst, ist m.E. inhaltlich vollkommen zutreffend, brillant analysiert und dargestellt. Doch wie ich sehe, löst Du Deine Probleme mit Welt, Mensch und Gott nach wie vor durch gnadenloses Herunterbrechen von sozialen Strukturen, Psychologismen, biologischen Systemen usf. auf wie auch immer wechselwirkende biophysikalische Prozesse; Du atomisierst sie, zermalmst sie gewissermassen: Kant zur Ehre.

Doch was und wem nützt dieser auf einen atomisierten Staubhaufen reduzierte Problemkreis zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Interaktion? 
Natürlich kann man Platon'sche Ideale kritisch werten (insb. Popper in „The Open Society an its Enemies“). Für meine Begriffe kommt man jedoch nicht umhin, als Fundament für eine hinreichend funktionierende Staatsform (eben als moderne offene Gesellschaft fungierend) gewisse Ideale (so eben auch den Wahrheitsbegriff, wie er sich aus dem uns eingeborenen W. -Empfinden entwickelt hat) zu definieren und diese über geeignete staatliche Instrumente von den mündigen Mitgliedern einer Gesellschaft einzufordern.

Die von Dir treffend beschriebene „semantische distanz aus mindestens zwei komponenten (a:) und (b:)“ ist für mich nichts anderes als eine (von unzähligen) Ausprägungen der Differenz, in die wir „Erdenkinder“ nun mal hinein geboren sind. Wir hatten hier schon oft davon geschrieben. Der Preis für (jegliches) Leben in Materie ist das Aushalten (aber auch Erleben) dieser Differenz: Plus-Minus, Licht-Schatten, Gut-Böse, Wahrheit-Lüge, fressen-gefressen werden, und so weiter und so fort. (Ich hatte vor Zeiten hier darüber geschrieben: Essentia-esse als in allem Endlichen notwendig herrschendem Spannungsfeld.)
Weiterhin ist die von Dir angeführte Potentialität und eine jeweils aus ihr aktualisierte Realität für mich ein nahezu apriorisches Grundprinzip menschlicher Intra-Aktion mit einer (uns nicht im Alltagsbewusstsein verfügbaren) Potenz/Akt-Struktur.

„aufs alltags praktische herunter gebrochen“: Es ist alles möglich, doch es ist nicht alles erlaubt (letztlich nicht zweckdienlich, also nicht lebens- und gesellschaftstauglich). Die bloße Natur befolgt (Dank Evolution-Selektion) dieses Grundsatz. Wir Menschen ganz offensichtlich (noch) nicht. Und so bleibt o.a. Grundprinzip vermutlich noch sehr lange ein (platon'sches) Ideal. Kein Problem eigentlich: Menschheitsgeschichtlich stehen wir (im Vergleich zu 5 Mrd. Jahren Erdentwicklung) noch ganz am Anfang. Da ist noch sehr viel Luft nach oben, wie man landläufig sagt. Und so müssen wir Menschlein uns halt tagtäglich mit  der von Dir angesprochenen Misere auseinandersetzen: „ bis heute ungelöste riesen probleme, auf denen sich unser geradezu irrwitzig dümmliches vordergründiges denken, meinen, dafürhalten abspielt.“

Als Beispiel dafür hat RF Schopenhauers Plädoyer für Scheinargumente (bewusste Lüge als Mittel selbstdarstellerischer Infallibität) erwähnt. Und tatsächlich ist es täglich erlebtes probates Mittel zu eben diesem Zweck, obendrein auch Top 1 jeden Politiker- und Manager-Trainings.

Und nun die Frage zur Moral oder besser zur Ethik (denn deren Moralen gibt es viele): Es liegt an jedem selbst, wie er es mit Wahrheit und Lüge hält. Für mich ist die platte, berechnende, dreiste Lüge (wem auch immer gegenüber) ein Greuel und all zu oft ein Verbrechen.  Doch (der Billigkeit geschuldet) gibt es ja auch die „erlaubte“ bzw. gnädige (Not-)Lüge: Der seines (alten todgeweihten) Patienten  unheilbare Krankheit leugnende Arzt. Das eine Ehe rettende „Nein“ auf die Frage: „Hast du mit ihr/ihm geschlafen?“ („Ihre/seine“ Verschwiegenheit vorausgesetzt). Wir kennen tausend Beispiele.  

Nochmal komme ich auf das von Dir erwähnte „aufs alltags praktische herunter gebrochen“ zurück: 
Wenn mir wieder mal alles zu kompliziert ist (und selbst die lumpigen zehn göttlichen Gebote zuviel sind) breche ich meine gelebte Ethik auf den bisweilen als goldenen Satz der Philosophie gepriesenen Grundsatz herunter: „Was du nicht willst, das man dir tut, füg' auch keinem andern zu“. Nobler ausgedrückt natürlich durch den Kant'schen Imperativ (Da bin ich -ausnahmsweise- ihm sehr nahe).

Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl



Am 16.10.2016 um 15:26 schrieb Waldemar Hammel via Philweb:
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