Doch was und wem nützt dieser auf einen atomisierten Staubhaufen
reduzierte Problemkreis zwischenmenschlicher und
gesellschaftlicher Interaktion?
Natürlich kann man Platon'sche Ideale kritisch werten (insb.
Popper in „The Open Society an its Enemies“). Für meine Begriffe
kommt man jedoch nicht umhin, als Fundament für eine hinreichend
funktionierende Staatsform (eben als moderne offene Gesellschaft
fungierend) gewisse Ideale (so eben auch den Wahrheitsbegriff, wie
er sich aus dem uns eingeborenen W. -Empfinden entwickelt hat) zu
definieren und diese über geeignete staatliche Instrumente von den
mündigen Mitgliedern einer Gesellschaft einzufordern.
Die von Dir treffend beschriebene „semantische distanz aus
mindestens zwei komponenten (a:) und (b:)“ ist für mich nichts
anderes als eine (von unzähligen) Ausprägungen der Differenz, in
die wir „Erdenkinder“ nun mal hinein geboren sind. Wir hatten hier
schon oft davon geschrieben. Der Preis für (jegliches) Leben in
Materie ist das Aushalten (aber auch Erleben) dieser Differenz:
Plus-Minus, Licht-Schatten, Gut-Böse, Wahrheit-Lüge,
fressen-gefressen werden, und so weiter und so fort. (Ich hatte
vor Zeiten hier darüber geschrieben: Essentia-esse als in allem
Endlichen notwendig herrschendem Spannungsfeld.)
Weiterhin ist die von Dir angeführte Potentialität und eine
jeweils aus ihr aktualisierte Realität für mich ein nahezu
apriorisches Grundprinzip menschlicher Intra-Aktion mit einer (uns
nicht im Alltagsbewusstsein verfügbaren) Potenz/Akt-Struktur.
„aufs alltags praktische herunter gebrochen“: Es ist alles
möglich, doch es ist nicht alles erlaubt (letztlich nicht
zweckdienlich, also nicht lebens- und gesellschaftstauglich). Die
bloße Natur befolgt (Dank Evolution-Selektion) dieses Grundsatz.
Wir Menschen ganz offensichtlich (noch) nicht. Und so bleibt o.a.
Grundprinzip vermutlich noch sehr lange ein (platon'sches) Ideal.
Kein Problem eigentlich: Menschheitsgeschichtlich stehen wir (im
Vergleich zu 5 Mrd. Jahren Erdentwicklung) noch ganz am Anfang. Da
ist noch sehr viel Luft nach oben, wie man landläufig sagt. Und so
müssen wir Menschlein uns halt tagtäglich mit der von Dir
angesprochenen Misere auseinandersetzen: „ bis heute ungelöste
riesen probleme, auf denen sich unser geradezu irrwitzig
dümmliches vordergründiges denken, meinen, dafürhalten abspielt.“
Als Beispiel dafür hat RF Schopenhauers Plädoyer für
Scheinargumente (bewusste Lüge als Mittel selbstdarstellerischer
Infallibität) erwähnt. Und tatsächlich ist es täglich erlebtes
probates Mittel zu eben diesem Zweck, obendrein auch Top 1 jeden
Politiker- und Manager-Trainings.
Und nun die Frage zur Moral oder besser zur Ethik (denn deren
Moralen gibt es viele): Es liegt an jedem selbst, wie er es mit
Wahrheit und Lüge hält. Für mich ist die platte, berechnende,
dreiste Lüge (wem auch immer gegenüber) ein Greuel und all zu oft
ein Verbrechen. Doch (der Billigkeit geschuldet) gibt es ja auch
die „erlaubte“ bzw. gnädige (Not-)Lüge: Der seines (alten
todgeweihten) Patienten unheilbare Krankheit leugnende Arzt. Das
eine Ehe rettende „Nein“ auf die Frage: „Hast du mit ihr/ihm
geschlafen?“ („Ihre/seine“ Verschwiegenheit vorausgesetzt). Wir
kennen tausend Beispiele.
Nochmal komme ich auf das von Dir erwähnte „aufs alltags
praktische herunter gebrochen“ zurück:
Wenn mir wieder mal alles zu kompliziert ist (und selbst die
lumpigen zehn göttlichen Gebote zuviel sind) breche ich meine
gelebte Ethik auf den bisweilen als goldenen Satz der Philosophie
gepriesenen Grundsatz herunter: „Was du nicht willst, das man dir
tut, füg' auch keinem andern zu“. Nobler ausgedrückt natürlich
durch den Kant'schen Imperativ (Da bin ich -ausnahmsweise- ihm
sehr nahe).
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
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