Moin Thomas, 

meine Gedanken zu "vorauseilenden und rückläufigen Möglichkeitswellen“ entstammen primär der Quantentheorie und sekundär der Absorbertheorie bis in den Wirkungszusammenhang der Welt hinein. Zugleich sind ‚möglich' und ‚wirklich' Worte der Umgangssprache, die ja mindestens bis auf Aristoteles zurückgehen. Du siehst nun im Glauben ein strukturierendes Prinzip gelebt, das ich bereits im Alltag angelegt sehe.    

Du schreibst: „Dieses grundsätzliche als unauflösbares Gesamt Gegebensein lässt sich nicht in Sprache beschreiben.“ Es bleibt aber in statistischen Gesamtheiten erhalten. Wobei ich eher von Gesamt Vorhandensein schriebe; denn wer oder was sollte wem etwas gegeben haben? Joseph hatte ich gefragt: „Wie gelangen wir aus immer schon gemachten sprachlichen wie sinnlichen Unterscheidungen im Erleben zum Holismus? Im Ganzheitsgefühl von sich selbst ausgehend? Mittels statistischer Gesamtheiten aus kosmischer Perspektive?“  

Du siehst „die Individuation von Einzelnem aus dem Ganzen“ als Wunder und Thema der Religion an, ich sehe sie bereits im Alltag angelegt; denn was anderes ist die Selbstreproduktion der Lebewesen? Aus Afrika überliefert ist ja der Spruch: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Heute geht es eher um Lebensformen, die auf soziale Praxen bezogen werden bzw. aus ihnen hervorgehen und ebenfalls ganzheitliche Wirkungsgefüge darstellen,— wie bereits Organismen in ihren ökologischen Nischen.    

Du endest mit dem „Rätsel der Paradoxie von Ganzheit und Teil“, aber warum sollte rätselhaft erscheinen, was im Lebensvollzug selbstverständlich ist? Könnte es sich um ein typisch philosophisches Scheinproblem handeln, das entsteht, weil Organismen wie Maschinen angesehen werden, die gebaut, zerlegt und wieder zusammengesetzt werden können? Mit Organismen gelingt das nicht, ebenso wenig wie mit verschränkten Quantenzuständen und statistischen Gesamtheiten. Deshalb sehe ich Möglichkeitswellen als neutrale und ahnungsweise wie mathematisch präzisierbare Wahrscheinlichkeitsdichten sowohl für Maschinen als auch für Organismen als geeignet an. 

Das Schlusswort entnehme ich Siddhartha: „Die Worte tun dem geheimen Sinn nicht gut, es wird immer alles gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht, ein wenig verfälscht, ein wenig närrisch.“ 

IT      
    

Am 30.11.2024 um 09:33 schrieb Dr. Dr. Thomas Fröhlich über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Liebe ausdauernd und bereichernd Streitende,

ich habe zum Thema Glauben ein paar Zeilen geschrieben - in weiterer Verfolgung meines „Stollen" (leider kein Christstollen, den gibt es später..)- Modells. 

Zuvor noch vielen Dank für Deine anregenden Gedanken zu " vorauseilenden und rückläufigen Möglichkeitswellen“, zu Goethe, Grimm und Novalis: ganz offenbar haben meine Bilder in Dir Resonanz gefunden, und es kommen bereichernde Bilder und Gedanken auf - das belebt!

Hier meine Zeilen:

Die Art, in der die zu Grunde liegenden Becken oder Schalen – vermittelt über ihre Verwirklichungen miteinander interagieren ist die der ganzheitlichen, die einer Becken- oder Schalenensemble als Ganzes betreffenden Strukturveränderung. Diese kann als Schwingen, als in Resonanz geraten bezeichnet werden. Es ist der Körper als Ganzes, der sounding board, die Klangschale als Ganze, die hier dynamisiert und zu Veränderungen im Sinn des Eingehens einer Mitschwingenden Gemeinsamkeit veranlasst werden. Es ist nicht der Körper in seinen einzelnen Gliedern, sondern dessen strukturierendes Prinzip, die Seele, die mitschwingt, oder das Zentrum des Gesamt, als Herz, das berührt wird.

Im Glauben wird dieses strukturierende Prinzip, der jeder Vereinzelung logisch (nicht zeitlich) vorausliegende gemeinsame Grund zusammen mit gedachten, erlebten, gefühlten Verwirklichungen gelebt.


Indem ich einen Film schaue, den ich schon gut kenne, begebe ich mich in eine bereits zuvor bewohnte Ganzheit, entsprechend in dem gegenwärtig genutzten Bild in einen vertrauten Stollen. Benutze ich Denkbahnen und körperliche Routinen, gilt dasselbe. Religion fragt nicht nach einzelnen Stollen und Stollenbewohnern, sondern nach Bewohnern und Stollen überhaupt, sie geht nicht auf Strukturen, sondern auf das Strukturierungsprinzip, in immer weiter ausgreifenden und schließlich das Denkvermögen übersteigendem Maß. Fühlen ist anders organisiert, indem es von vornherein als Zusammenhang und als Zusammenhängen auftritt. Hier das das Gesamt als Gesamt präsent, und seine (empirische, aus Verstandessicht unbestreitbare) Jeweiigkeit wird erst vom Verstand begriffen. 

Dieses grundsätzliche als unauflösbares Gesamt Gegebensein lässt sich nicht in Sprache beschreiben, weil das Prinzip der Sprache gerade in de Vereinzelung, in der Zerlegung in Kategorien, Begriffe, Zeichen besteht. Aus der Froschperspektive des je Vereinzelten ist die Ebene des Gesamt die Meta-Ebene, aber dieser Ausdruck ist leblos, und die Meta-Ebene wird als nachgängige Zusammenführung etwas zuerst als Getrennt Gegebenem konstruiert.

Zugleich sind wir keine Götter, und das unserer Seele und unserem Fühlen gegeben „ursprünglich Ganzheitliche“ steht in menschlichem Widerspruch zu unserer Fähigkeit der Distanzbildung und des begrifflichen Umgreifens aus der Distanz heraus.

Dieses Paradox wird anerkannt im Glauben, der einsieht, dass der menschlich-begriffliche Zugang unvollkommen ist, und der sich in diese Unvollkommenheit einfügt. Gerade das christliche Gottesbild besteht aus einer Paradoxie, die nicht verstandesgemäß aufgelöst werden kann und deren Befassung deshalb nur als Annäherung, nicht als Erreichen gedacht wird. 

Die Individuation von Einzelnem aus dem Ganzen gehört zu diesem Wunder, und das Strukturprinzip der Spannung zwischen Ganzem und individuiertem Einzelnen ist Thema der Religion von vornherein: am Anfang war der Logos, heißt es daher, und es geht mit der individuierenden Genese distinkter Qualitäten als jeweiligen Innen weiter.

Dieser Gegensatz wird dabei von vornherein und zu Recht nicht als statisch gedacht, sofern der Mensch über ihn nachdenkt und selbst von ihm betroffen ist: ihm wird Atem eingehaucht, Rauch, pneuma, spiritus.

Diese Dynamik von Enge und Weite, Dichte und Verströmen, Innesein und Auflösung in etwas, das weder innen noch außen ist wird gesehen, sie löst aber nicht das Rätsel der Paradoxie von Ganzheit und Teil, von jeweiligem Innen und alle Innen umfassenden Umgreifendem (Jaspers).

Viele Grüße und in diesem Sinne einen schönen ersten Advent!


Thomas