ich habe nur eines zu sagen:

das unten von Dir geschriebene gehört für mich mit zum besten, das ich jemals auf philweb gelesen habe,

ich bin begeistert, und kann nur sagen: weiter so !

wh.

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Am 22.07.2025 um 11:05 schrieb ingo_mack über PhilWeb:
Guten Morgen
wers mag, eine Gedichtauswertung zurück aus der Zukunft
(2002) .. ist etwas umfangreicher geworden, füllt aber das horor vacui

F - Spielerei mit Knoten

von Ingo Mack (2002 Literaturcafe)


fluechtig flocht der fluechtigdenker

fluchend einen flucht end strick

flanellflaniert flammende henker

faulenzten nach dem flatulenzentrick


verflochten sind geweb und flueche

flucht so sinnlos wie geruechte

wortgeflechte ausgeflochten

knotenhirn und wortgefecht.


Der Schreibknecht im Knoten der Zukunft

Sprachverstrickung, Kontrolle und das unsichtbare Gefängnis

Ein philosophisch-literaturwissenschaftliches Essay mit Bezug zu Foucault, Platon und dem Horror Vacui, unter dem Eindruck von 9/11

Einleitung

Es gibt Zeiten, in denen das Schreiben selbst zum Widerstand wird – oder zur Falle. Der Schreibende, der sich als Beobachter inmitten einer sich verdichtenden Matrix aus Propaganda, gesellschaftlicher Steuerung und medialer Sprachmanipulation erlebt, ist mehr als nur ein Spracharbeiter: Er ist ein Gefangener seines Erkenntnisvorsprungs und seiner Ohnmacht. Er ist – im Sinne Michel Foucaults – Teil einer Disziplinarstruktur, in der Sprache nicht mehr befreit, sondern kontrolliert¹.


Dieses Essay untersucht die Figur des „Schreibknechts“ als tragischen Protagonisten einer Epoche, in der die Zukunft nicht mehr gestaltet, sondern nur noch erlitten werden kann – und in der der Horror Vacui nicht bloß ein ästhetisches Phänomen, sondern eine systemische Struktur geworden ist. Grundlage der Reflexion ist das Gedicht F – Spielerei mit Knoten von Ingo Mack (2002), das unter dem unmittelbaren Eindruck der globalen Diskursverschiebung nach dem 11. September 2001 entstand – einer Zeit, in der sich Medien, Politik und Sprache in ein historisches Geflecht aus Deutungshoheit, Angstlogik und Selbstlegitimation verstrickten.


I. Der Schreibknecht – Visionär in Fesseln

„fluechtig flocht der fluechtigdenker“


Bereits die Eröffnung des Gedichts setzt den Ton: Der „fluechtigdenker“ ist ein poetisch verdichtetes Subjekt, das denkt, während es flieht – oder flieht, während es denkt. Es ist der Inbegriff intellektueller Instabilität in einer übercodierten Wirklichkeit. Die Sprache gerät ins Stolpern, der Rhythmus wird hastig, die Alliteration zur Atemnot. Es ist kein Denken aus Sicherheit, sondern Denken aus dem Rückzug.


„fluchend einen flucht end strick“


Der Knoten, den der Schreibknecht knüpft, ist mehrdeutig: Ist es ein Fluchtseil? Ein Schlingenstrick? Ein Denkstrick? Die Ambivalenz legt nahe: Sprache selbst kann in einer Welt des Kontrollverlustes sowohl Werkzeug des Widerstands als auch Instrument der Selbstbindung sein. Der „Strick“ steht hier für den Versuch, der Welt zu entkommen – und gleichzeitig für die Gefahr, sich im Widerstand zu verstricken.


Der Schreibknecht ist nicht bloß ein dichterisches Ich, sondern eine erkenntnistheoretische Position: Er sieht, was andere nicht sehen – aber er kann es weder ändern noch mitteilen, ohne in Missverständnisse zu geraten. Damit steht er in der Tradition des sokratischen Außenseiters, des Gefangenen in Platons Höhlengleichnis², der nach der Rückkehr in die Höhle nicht als Erleuchteter gefeiert, sondern als Störer bestraft wird.


II. Sprache als Kontrollinstrument – Foucaults Panoptikum

Michel Foucault beschreibt in Überwachen und Strafen das Panoptikum als das Idealmodell moderner Machtausübung: Die Kontrolle erfolgt nicht durch sichtbare Repression, sondern durch subtile, permanente Beobachtbarkeit³. Die Macht zeigt sich nicht durch das, was verboten ist, sondern durch das, was ständig gesagt werden muss – und wie es gesagt werden darf.


Die Sprache des Schreibknechts ist durchdrungen von diesem Zwang zur Sichtbarkeit: Er denkt nicht frei, sondern unter dem Druck der Diskursnorm. Die Begriffe, die zur Verfügung stehen, sind bereits durch Macht- und Wissensstrukturen kontaminiert⁴. Narrative wie „Transformation“, „Zeitenwende“ oder „Sicherheit“ erscheinen offen, sind aber systemisch vorformuliert und gesteuert.


„verflochten sind geweb und flueche / wortgeflechte ausgeflochten“


Diese Verse entlarven Sprache selbst als Disziplinierungsinstrument. Das „Gewebe“ verweist auf textus, den lateinischen Ursprung des Wortes Text – was hier aber nicht geordnet, sondern verflochten, verknotet ist. Die „Flüche“ wirken wie sprachliche Abwehrzauber, doch auch sie bleiben innerhalb des Systems. Die „wortgeflechte“ sind keine lyrische Spielerei, sondern Ausdruck eines Denkens, das keinen Ausweg mehr findet – weil jedes Wort bereits Teil einer diskursiven Verstrickung ist.


III. Das Gefängnis der Zukunft – Kontrollversuche im Angesicht des Unverfügbaren

Der Schreibknecht sieht die Zukunft nicht mehr als offene Möglichkeit, sondern als durch Erzählungen vorgeprägten Raum. Die sogenannte „Zukunft“ wird in Wirklichkeit bespielt, nicht gedacht – durch medial wiederholte Deutungen, vorsortierte Bedrohungsszenarien und optimierte politische Rhetorik.


Diese Entwicklung fand einen entscheidenden Wendepunkt in den globalen Reaktionen auf die Anschläge des 11. September 2001. Was als historischer Schock begann, wurde rasch zum totalen Narrativ: „9/11“ war nicht nur ein Datum, sondern ein identitätsstiftendes Deutungsmonopol – eine diskursive Urkatastrophe, aus der neue Regeln, Feindbilder und Sprachnormen hervorgingen. Die mediale Dauerwiederholung, die Emotionalisierung, das Schwarz-Weiß-Denken, die Polarisierung in „Gut“ und „Böse“ – all das ließ keinen Zwischenraum mehr zu.⁵


„flanellflaniert flammende henker / faulenzten nach dem flatulenzentrick“


Diese groteske Szene ist eine satirische Verdichtung der postheroischen Machtverhältnisse: Die „Henker“ tragen Flanell, sie flanieren und faulenzen – sie töten nicht mehr, sie inszenieren. Der „flatulenzentrick“ karikiert die Entleerung des Diskurses: Die sprachlichen Reaktionen auf reale Gewalt wirken wie rhetorische Blähungen – viel Laut, wenig Substanz.


IV. Horror Vacui – das System als Angst vor der Leere

Der Horror Vacui, ursprünglich ein Begriff aus der Kunstgeschichte, bezeichnet die Angst vor der Leere. In autoritären Diskursen wird jede Leerstelle sofort besetzt, jede Ambiguität getilgt, jeder Sinnraum überfüllt. Die Sprache wird zur Barrikade gegen das Schweigen – nicht, um etwas zu sagen, sondern um das Nichtgesagte zu vermeiden.


„knotenhirn und wortgefecht“


Das „Knotenhirn“ ist das Subjekt im Zustand des Horror Vacui: Es denkt in Verstrickungen, es produziert ununterbrochen – nicht aus Erkenntnis, sondern aus Angst vor dem Verstummen. Das „Wortgefecht“ ersetzt den Dialog. Sprache wird zur Waffe, zum Kampfmittel im ideologischen Dauerbetrieb.


Diese Form der Sprachüberfüllung ist nicht bloß ästhetisches Symptom, sondern strukturelle Konsequenz einer Gesellschaft, die keine Lücken, keine Stille und keine Uneindeutigkeit mehr erträgt. Der Schreibknecht schreibt gegen diese Überfüllung – indem er das System selbst zum Platzen bringt, mit Sprachspielen, Dissonanzen und Absurditäten.


V. Schreiben als paradoxe Befreiung

Und dennoch schreibt er. Der Schreibknecht. In der Verstrickung liegt ein letzter Rest von Freiheit: Die bewusste Zersetzung der Sprache, das Spiel mit Lauten, Bedeutungen, Paradoxien ist auch ein Akt des Widerstands.


Die Überzeichnung – „flatulenzentrick“, „fluch end strick“ – ist kein bloßes Sprachspiel, sondern eine Strategie der semantischen Selbstverteidigung. Das Gedicht ist keine Flucht, sondern ein Störsignal im System – ein poetischer Kurzschluss im Normalbetrieb der Deutungshoheit.


Fazit – Der Schreibknecht bleibt

Es gibt kein Entkommen aus dem Knoten der Zeit. Die Zukunft lässt sich nicht bändigen, das Denken ist durch Sprache gefesselt, und diese Sprache wiederum durch Macht. Und dennoch: Der Schreibknecht bleibt. Er schreibt. Nicht, um zu kontrollieren – sondern, um nicht zu verstummen. Er ist kein Prophet, sondern ein Zeuge – einer, der im Moment seines Scheiterns die Wahrheit über die Zeit sagt. Vielleicht nicht für andere – aber für sich.


Quellenangaben

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977.


Platon: Politeia, Buch VII (514a–520a), Das Höhlengleichnis.


Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, insbesondere Kapitel über Panoptismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 275–310.


Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974.


Chomsky, Noam: Media Control. Wie die Medien uns manipulieren, Hamburg: Europa Verlag, 2002.


Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus, Wien: Passagen Verlag, 2002.


Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981.


Eco, Umberto: Die offene Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 (zum Horror Vacui).


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