Am 09.03.2024 um 03:24 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Nehmen wir an, Physiker gehen bei ihren Theorien nicht von Erfahrungen, sondern von erahnten Prinzipien aus. Müsste nicht die Erfahrung zeigen, wie weit sie damit kommen, wenn die Prinzipien kein Selbstzweck sein, sondern etwas mit der Erfahrung zu tun haben sollen, indem sie z.B. nachprüfbar zutreffende Rückschlüsse und Prognosen ermöglichen? Deduktiv kann man das Ergebnis ausrechnen, wenn man von bestimmten Werten ausgeht. Dann müsste man das Ergebnis mit den Tatsachen vergleichen. Dann das Ganze sicherheitshalber ein paarmal wiederholen, auch mit anderen Werten, bis man irgendwann sagt: jetzt verlassen wir uns darauf, jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils! Schleicht sich da nicht doch wieder bei der praktischen Anwendung unvermeidlich die Induktion ein? Anders als in der Logik oder Mathematik, wo es nur um Formen ohne Inhalte geht? So dass Hume mit seinem "ihr wisst gar nichts, ausser dem, was ihr euch ausgedacht habt" (den allgemeinen Begriffen, aus denen bestimmtes auch für den darunter subsumierbaren Einzelfall abgeleitet werden kann) doch recht behielte?

Moin Claus. 

Hume wäre lediglich zu modifizieren durch „fast nichts“ anstatt „gar nichts“. Aber was ausgedacht wird, sind die in sich unendlich vielfältigen mathematischen Strukturen. In einer von ihnen schränkt ein Invarianzprinzip eine winzige Struktur ein, die als physikalische Theorie interpretiert unter speziellen Einschränkungen die Deduktion einer Hypothese ermöglicht. Wird sie experimentell bestätigt, wird nicht die Theorie induziert, sondern lediglich die Hypothese quantitativ als empirisch wahr ausgewiesen. Formal wahr war sie bereits deduziert. 

Es könnte aber sein, vielleicht meinst du das, dass man durch Deduktion etwas herausfindet, was in den eigenen Voraussetzungen lag, ohne dass es einem aufgefallen ist. Wir gehen z. B. von einer bestimmten Beziehung zwischen bestimmten Grössen aus, die vielleicht definitionsgemäss mit anderen Grössen zusammenhängen und können durch Hin- und Herwenden und Umformen der Ausdrücke herausfinden, dass dann auch andere interessante Beziehungen gelten, die natürlich mit den Voraussetzungen, von denen man ausgegangen ist, stehen und fallen.
So könnte ich mir deduktive Schlüsse vorstellen, durch die man etwas dazulernt, ohne über die eigenen Voraussetzungen hinauszugehen.

Du drückst Dich sehr vage aus. Betrachten wir den Existenzbeweis des Positrons (vgl. meine Mail vom 25. Jan an IM). Schrödinger hatte der optisch-mechanischen Analogie Hamiltons folgend, die Wellenoptik zur Wellenmechanik vervollständigt, wobei Hamilton bereits die Strahlenoptik als Grenzfall der Wellenoptik ausgewiesen und die Analogie zur Teilchenmechanik hergestellt hatte. Die auf das Wasserstoffatom beschränkten Lösungen der Schrödingergleichung stimmten mit dessen gemessenen Energieniveaus des Elektrons überein. 

Dem Einstein-Fan Dirac missfiel natürlich die mangelnde relativistische Invarianz der Schrödingergleichung, so dass er sich daran machte, wiederum im Anschluss an Hamilton, aber unter Berücksichtigung des Relativitätsprinzips eine Wellenelektrodynamik zu formulieren. Das Ergebnis war seine nach ihm benannte Elektronengleichung, die nicht nur den Spin enthielt (der bereits bekannt war), sondern auch Lösungen für positive Elektronen zuließ. Dirac konnte die Existenz von Positronen einschließlich ihrer Annihilation mit Elektronen deduzieren. 

Dirac schreibt dazu hinsichtlich des von ihm noch Proton genannten Positrons und des magnetischen Monopols in seiner Arbeit "Quantised singularities in the electromagnetic field“ 1931: “This new development requires no change whatever in the formalism when expressed in terms of abstract symbols denoting states and observables, but is merely a generalization of the possibilities of representation of these abstract symbols by wave functions and matrices. Under these circumstances one would be surprised if Nature had made no use of it.” Ja, warum sollte die Natur nicht davon Gebrauch machen, was sich der Theoretiker so denkt? Wissenschaftshistorisch interessant ist auch seine Einleitung unter:  


Zudem folgen aus der Diracgleichung die Feinstrukturen der Elektronenzustände in den Atomen ebenso wie die Quecksilberanomalie (als Schwermetall flüssig zu sein bei Raumtemperatur) und die für Metalle besondere Gelb- bzw. Rotfärbung von Gold bzw. Kupfer. Und als nichtrelativistischen Sonderfall enthält die Dirac- auch die Schrödingergleichung.     

Es ist die mathematische Struktur der komplexen Analysis, in der Dirac in Anpassung an Einstein und Schrödinger die Elektron/Positron-Lösungen seiner Gleichung erhielt. Die wesentlichen Voraussetzungen der Dirac'schen Existenzbeweise sind die komplexe Analysis sowie das Relativitäts- und Quantenprinzip. Die Details müssen natürlich den Orignalarbeiten Dirac's oder einem Lehrbuch entnommen werden. Was mich während des Studiums damals immer wieder faszinierte, waren die verblüffenden Auswirkungen einfacher Invarianzprinzipien auf die mathematischen Strukturen. Das Relativitätsprinzip erlaubt auch die Deduktion einer endlichen Grenzgeschwindigkeit und eines Proportionalitätsfaktors, die mit der Lichtgeschwindigkeit und dem Wirkungsquantum identifiziert und so auch quantitativ bestimmt werden können. Im Prinzip hätte Dirac seine relativistische Elektronentheorie bereits aus Einsteins „Elektrodynamik bewegter Körper“ heraus entwickeln können. 

IT