Karl Janssen
janssen.kja@online.de



Am 28.07.2024 um 10:19 schrieb Dr. Dr. Thomas Fröhlich über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Lieber Karl,

zum Verhältnis abstrakter, mathematisierbarer Kategorien wie Zeit und Raum und empirischer Lebenwirklichkeit gab es in researchgate.net eine Diskussion, zu der ich etwas beigetragen habe, ich zitiere im Folgenden. 

Marilyn Stendera ist eine in Australien lehrende Philosophin, die die deutsche Sprache beherrscht, daher ist ein hier wegen Überlänge nicht zitierter Teil meines Beitrages auf deutsch geschrieben.

Hier der Beitrag, und hier der Link: 

https://www.researchgate.net/publication/381613945_Some_comments_on-_Marilyn_Stendera_2022_Heidegger_on_the_Calculability_of_Time



Danke Dir sehr für Deinen Link auf den Artikel von Marilyn Stendera, lieber Thomas. Während der vergangenen Tage war ich mit meiner Frau unterwegs und habe bei sehr naturnahen Aufenthalten einmal mehr „empirische Lebenswirklichkeit“ unmittelbar erfahren dürfen, die eben genau diesen „klingenden, leuchtenden Ausdruck“ (wie Claus es benannte) erleben lässt, sofern man man seine Sinne darauf richtet. Als diesbezüglich ernüchternder Aspekt sei erwähnt, dass ich jenen dieses Erlebnis abspreche, die auch in naturnaher Freizeitgestaltung offensichtlich nur noch Aufmerksamkeit für „Messages“ ihres Mobilphones haben. 

Ähnlich könnte ich mir das Empfindungsprofil jener Zeitgenossen vorstellen, die - dem Homo Faber gleich - alles sie Umgebende zu kategorisieren, resp. in „mathematisierbare“ Einheiten zu transformieren suchen. Abzähl-Freaks eben, oder Erbenszähler, wie ich - zugegebenermaßen garstig - meinen Brieffreund Waldemar so benannte. 

Die Lektüre von Heideggers „Sein und Zeit“ hat mir seinerzeit (sic!), vornehmlich auf irritierende Ambivalenzen in seiner Diktion bezogen, sehr viel abverlangt. Als besonderer Eindruck blieb mir zum einen der „berechnende Mensch“ in seinem sich selbst begegnenden „Zuhanden sein“, zum anderen das „man“, dem er ein ganzes Kapitel widmet: „Man macht das so“ (weil alle es so machen). Als ich das Buch erstmals las, wusste ich noch nichts von unserem Joseph hier, der diesem Klischee sicher nicht entsprechen wollte :-)

Heideggers Bezug zum Nationalsozialismus hat mich nicht sonderlich irritiert, da ich ihn eher als urschwäbischen Landsmann gesehen und vor allem angenommen habe, in seiner Beziehung zu Hannah Arendt (oder doch eher umgekehrt) keine grundlegende Neigung zum Hitler-Regime gegeben sein konnte. Ich habe Tonmitschnitte seiner Vorlesungen gehört und glaube nicht, dass er in irgendeiner Weise ein politischer Zeitgenosse, als vielmehr ein wirklicher Philosoph, vor allem aber auch ein Sonderling war. 

Heideggers Termini von Zuhandenheit vs. Vorhandenheit stehen für diese „ontische Differenz zwischen „innerweltlichem“ und konkreten Dasein (wahrlich in die Welt geworfen sein). Das ist jedoch nicht die historische Frage nach dem Sein schlechthin, im Sinne von Leibniz' „Warum ist überhaupt etwas und vielmehr nicht nichts“, sondern die Frage nach Sinnhaftigkeit zwischen einzelnen Seinsformen, die in ihrer Mannigfaltigkeit eine unabweisbare Einheitlichkeit aufweisen. Das lässt an das VIELE im EINEN denken, dieser transzendentalen Entität, die als Ursprung über allem SEIENDEN steht. Heidegger stellt somit die Frage nach dem Sinn von Sein schlechthin, da er diese Welt nicht als formlose Masse ohne sinnhafte Bezüge zwischen dem Seienden sieht. Heideggers enge Beziehung zur konkreten Lebenswelt, drückt er dann auch entsprechend aus, wenn er vom „Zeug“ spricht, als den Dingen, die Menschen für ihr Dasein benötigen. Dieser lebenspraktische Denkansatz macht ihn mir sympathisch. Nix mit Mathe, nix mit Berechnen und larmoyantem Kalkül.

Die von Heidegger genannte ontische Bedingung zur Entdeckung von „innerweltlich Seiendem“ schlechthin, ist für ihn Beweis für die „Weltlichkeit“ dieser Welt. Handwerklich gut gemacht, dieser Beweis! Vielleicht gibt es hier eine Parallele zu Descartes' „cogito ergo sum“, dieser pragmatisch klugen Art, sich seines SELBST bewusst zu werden, resp. zu sein. 

Von Praxis war hier zuletzt die Rede. Ein weiteres Beispiel eines empirischen vs. mathematisch abstrahierten Nachweises von Lebenswirklichkeit ist das Musizieren. Die Kunst der Musik – ein ganz anderer Denkansatz, doch nicht minder eingängig.

Als Ausdruck von Harmonie ist Musik nicht nur ein sinnliches Hörerlebnis, sondern wirkt tief in die menschliche Psyche (wie auch der von Tieren).

Wenngleich für die Musik hinsichtlich ihrer systematischen Ausgestaltung (Harmonielehre) eine strikte Methodik (Tonsätze etc.) vorgegeben ist, wird in der praktischen Ausführung, also der jeweiligen Tonfindung, tatsächlich nicht explizit zwischen „Korrektheit und Unkorrektheit durch Zurückführen auf Voraussetzungen unterschieden“ (wie Claus es m.E. zutreffend beschreibt), sondern es ist ein unmittelbares Hören (und ich würde ergänzen: ein ganzheitliches Hören). Mag sein, dass ich als Geigenspieler und Sänger speziell dem Hören und weniger den vor mir liegenden Notenblättern verbunden bin.
Nun, ohne Musiknoten geht’s (insbes. beim Zusammenspiel) ja nicht und für das Spiel des Lebens geht es auch nicht ohne Methoden. Für mein Dafürhalten jedoch kommt es dabei auf einen ganzheitlich „durchgeformten“ und eben nicht auf einen mathematisierend zergliederten Ablauf an.
Mir erschließt sich nicht, wie Ingo T. zu der Feststellung kommt, dass Menschen erst lernen mussten, was Töne sind, resp. was diese ausdrücken. Diesbezügliche prähistorische Forschung geht in dieser Frage davon aus, dass der frühe Mensch Töne aus der Natur nachahmte, u.a. zur Täuschung von Tieren, etwa durch Imitation bestimmter Tonfolgen bei der Jagd. Wahrscheinlich hat sich aus dieser Art von Klangnachahmung auch eine urzeitliche Sprachform entwickelt und sich bis in die Jetztzeit als Kulturgut der Menschheit nach jeweiligen Weltregionen spezifisch ausgeformt.
Musik und Gesang sind ein unverzichtbares Element weltumspannend zwischenmenschlicher Kommunikation und wo diese im wahrsten und tiefen Sinn betrieben werden, ist für Gewalt kein Platz.
KJ




Heidelberg, June 9th, 2004

 

Thomas Fröhlich

Comments on Marilyn Stendera (2022) Heidegger on the Calculability of Time

 

Dear Marilyn,

 

concerning your discussion in Marilyn Stendera (2022) Heidegger on the Calculability of Time,

Australasian Philosophical Review, 6:3, 282-287, DOI: 10.1080/24740500.2023.2263983, I may contribute some ideas, based on Heidegger’s Identität und Differenz, Band 11 Gesamtausgabe, Vittorio Klostermann Frankfurt, 2006.

Here, I first cite from the introducing chapter “Was ist das- die Philosophie?”. My main point focuses in the primordial, dynamically cohering homogeneous uniqueness and singularity of what can be identified with an attributed identity. This homogeneity (“ursprünglicher Einklang”) includes individually realized aspects of what can be observed in other singularities, to then become a trans-individual category, like the categories of time and space. In fact, both are aspects of individual agency, realizing underpinned trans-momentary potentials, to use further categories. The primordial unit is agency, hence, and its individual timing has aspects which may be shared with other individualities’ timing, allowing to mentally construe a categorically overarching abstract, general time, which is not real as a generality and as this generality, but only as individually embedded in the corresponding (“jeweiligen”) agencies.

Time does not add as a separate entity to an as well abstract space, to combine to an empiric timespace only then. Instead, it is an individuality-based aspect able to transcend the individual by virtue of its shareable, that is, aspectual nature. In this transcendence, time, as well as individual being-at-a-place enacts an convergence potential, transcending the inside in favor of connecting and interacting with other insides, each seen as the corresponding inside’s outside. So, time has an inherent connectivity aspect, one bridging the gap and difference of being inside, and addressing an outside.

I think I can find some arguments supporting this view in Heidegger’s work cited below. I may go on in German, citing Heidegger directly, which allows to better notice and listen to his alliterations like in “bestimmen, Stimmung, Stimme, Sprechen, entsprechen, durchsprechen, klingen, anklingen, Einklang, Weg, bewegen”, et cetera.

I have no authority in interpreting Heidegger, but I feel free to show what I like in his approach: It is his stress on dynamics, timing (zeiten), and, like his follower Gadamer the focus on interaction, dialogue, Gespräch, Weg, Übereinstimmung, correspondance, achieved convergence as shared understanding. (Heidegger gave his “Was ist das- die Philosophie?” lecture to a French audience, hence he occasionally uses French terms like “correspondence” in his talk).

To conclude, my argument is that the term “time” is too abstract, at risk of missing the time-generating individuality, of misleading in the form of a discussion which directly starts with trans-individual categories instead of asking about the latter.

 

OK, here we go – now writing and citing in German, since you are a native speaker:

xxx

Und hier ein weiterer Link zum Thema Ontologie und Mathematik_


Ein Auszug daraus:


General and individual aspects of being

To describe individual elements of a system only in terms concerning their trans-individual, general aspects does not work. Yet, the elements’ distinctive individuality can conceptually be introduced by considering a hypostasized individuality- and discreteness-providing potentiality. What emerges from this potentiality, and its individual form are realizations which also have general features, pointing to their “outside” and addressable from this outside in all forms of realized interaction. The supposed individual elements relate to other elements via such shareable, communicable features but they do not exclusively consist of them.

 

Insofar, as description in general terms is a description of the “outside” aspects, which, when realized, are ready to meld with other “outside” aspects, these aspects are embedded in the communication elements, combined with individuality-providing features. They do not govern these further features, but co-act with them in an integral, simultaneously integrity-preserving, and trans-individual-communication-providing form.

Objectivity, subjectivity

As outlined, describing reality in general terms to then derive the possibility of individuality as subjectivity is not possible. Neither locality nor individuality can be addressed and conceptualized when exclusively using generalities, like those articulated in mathematical description. To approach individuality, a concept is needed which provides an understanding of how trans-individual aspects might relate to the supposed phenomenon of individuality. Here, a bottom-up approach would argue the trans-individual aspects are aspects of individuals which are embedded in them.  Next, one needs to create a concept describing how this primordial individuality might be constituted. Again, the appropriate idea comes from the Aristotelian pragmatic differentiation of what has been observed as realized and what must be supposed as the underpinned potential providing chances of trans-momentary coherence, as a preserved individuality. The latter, in turn, if detectable at all must have shareable, addressable aspects to be detectable from its semantic outside. What is detected from the outside is obviously trans-individual, and not a pure inside. This concerns the individual’s features which have the potential to be generalizable. Among these features embedded in the integer potentiality and realized in this potentiality’s acts are those that do not depend on the temporal, spatial, and qualitatively contextual individuality of the observed realization. These features can be depicted in the form of general terms, applicable to what is seen as elements of sets, such as categories.

 

Using a description only in the form of these general aspects hence must be combined with a notice that this description only covers what is beyond individuality, and if the phenomenon of individuality is considered at all, it must be explicitly grounded in a concept of the latter.

 Liebe Grüße,


Thomas




Am 28.07.2024 um 00:37 schrieb Karl Janssen über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:



Am 27.07.2024 um 16:33 schrieb Claus Zimmermann über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Tag Ingo,

Der Ausdruck, über den es im Gegensatz zur technischen Wortbedeutung keine Vereinbarung gibt, sondern der selbsterklärend ist, ist nicht nur eine Vorform des Zusammenlebens. In der Mathematik kann alles auf Vereinbarungen zurückgeführt werden. Deshalb meine Vermutung, dass es einen klingenden, leuchtenden Ausdruck da nicht gibt. Aber vielleicht bin ich ja taub und blind dafür.

Claus


Das trifft m.E. der Kern der Sache: Mathematik hat zwar ihren wissenschaftlichen Ursprung in der Philosophie und begann ihren Siegeszug in Griechenland als Werkzeug zur logischen Beweisführung, wurde damit zur Grundlage der modernen Wissenschaft, spezifisch als Formalwissenschaft. 

Um zu einer eineindeutig bewiesenen Aussage zu gelangen, sind ebenso eineindeutige Prämissen und somit ein eindeutiges Beweiskonzept die unumgängliche Voraussetzung. Damit ist jedoch allenfalls der Geltungsbereich der Natur-, jedoch niemals jener der Geisteswissenschaft erfasst, da in letzterer eben diese eineindeutigen Prämissen letztgültig nicht gegeben sind, insbesondere, wo es sich um Metaphysik handelt.

So gesehen ist die Mathematik ein auf Naturwissenschaft begrenztes und damit eindeutig beschreibbares Wissenschaftsgebiet, deren Möglichkeiten zur Beweisführung sich jedoch nur bedingt (etwa als Prädikatenlogik für die Geisteswissenschaften und insbes. diePhilosophie anwenden lassen.

Wenn dem Phytagoras der Ausspruch „alles ist Zahl“, dem J.A. Wheeler „it's from bit“ zugeschrieben wird und ich behaupte: „it's all about information“, gehen alle Aussagen in Richtung einer eindeutig beschreibbaren, quasi mathematisierten Welt. Mathematik als die Sprache der Natur. Doch es ist und bleibt lediglich Sprache und hier gilt: Nicht alles ist in Sprache auszudrücken. Hier bleibt nur das Schweigen im Sinne Wittgensteins: „Über was man nicht sprechen kann, hat man zu schweigen“ (sinngemäß). Was hier übrig bleibt ist staunendes Schweigen. 

Und liegt denn nicht im Stillsein eine Möglichkeit zur Klärung, zur Sammlung auf das Wesentliche? Dazu bedarf es dann keiner Mathematik, keiner Logik und eben keiner Sprache, es bedarf des Einfühlens, des Hineinhörens, des Stillseins, um eben diesen „klingenden, leuchtenden Ausdruck“ zu vernehmen, der alles Leben begleitet.

KJ


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