Am 15.07.2023 um 17:45 schrieb Rat Frag über PhilWeb <philweb@lists.philo.at>:

Am Di., 20. Juni 2023 um 01:59 Uhr schrieb Karl Janssen über PhilWeb
<philweb@lists.philo.at>:
Für Husserl war es vor allem die Arithmetisierung der Naturwissenschaft, die für den Verlust des Weltbezugs verantwortlich ist. Mathematisierung wäre
nicht weiter schlimm, bliebe dabei nicht der Bezug zur Alltagswelt auf der Strecke. Mehr noch: Wissenschaft gaukelt uns Objektivität vor, hat aber ihre
erklärende Kraft verloren. Sie verschweigt, dass Objektivität in Wahrheit Ergebnis ihrer eigenen methodischen Konstruktion ist, die sie für das
«wahre Sein» ausgibt.“

Das scheint mir, ehrlich gesagt, eher ein Einwand für die
Sozialwissenschaften zu sein. Das ist deren zentrales methodologisches
Problem.
Während man in der Physik offenbar berechtigterweise davon ausgehen
kann, dass sich Gasatome beim Experimentieren genauso verhaltne wie
"in freier Wildbahn", ist diese Annahme bei menschlichen
Versuchspersonen sehr, sehr voraussetzungsreich.

Solltest Du Husserls Einwand eher auf Sozial-, denn auf Naturwissenschaften bezogen sehen, würde m.E. der Bezug auf Heidegger (Husserl-Schüler) greifen. Der (be)rechnende Mensch tut dies vornehmlich aus Sorge um sein Dasein, aber auch um das „Sich-Vorweg sein“, als ein Sein zum Ende. Das setzt eine „ICH“-Wahrnehmung voraus, ein ICH, das sein Dasein unbedingt bis zum Ende durchhalten will. Wenn hier (sehr wahrscheinlich) ein Bezug auf den Selbsterhaltungstrieb des Menschen existiert, kann es nicht verwundern, wenn das ICH sich auch als transzendentales Subjekt zu erkennen versucht und somit in der Tat versucht ist, an die Möglichkeit der Überführung dieses ICH in eine postmortale transzendentale Ebene zu glauben. 

Für Christen ist das die verheißene Auferstehung nach dem Tode. Die damit üblicherweise verknüpften Vorstellungen, Bilder und Erzählungen stellen m.E. eine nicht zu unterschätzende Falle dar, die eben genau auf Berechnung abzielt, nämlich sich durch „gottgefällige“ Lebensführung einen Platz im sog. himmlischen Paradies erwirken zu können. Ich fürchte, diese „Rechnung“ geht nicht auf! Rechnen, bzw. Berechnen kann sich nur auf gewusste bzw. konkret bekannte Fakten beziehen und da es für angenommen transzendentale Räume kein Wissen geben kann, ist jedes (Be-)Rechnen schlichtweg sinnlos.

Wenn also Husserl den Verlust an Weltbezug durch Arithmetisierung der Naturwissenschaft ausmacht, übt er nicht Kritik an mathematischer Gesetzmäßigkeit, sondern an einem daraus abgeleiteten, ausschließlich naturwissenschaftlich und somit methodisch konstruiertem, mechanistischen Weltbild, das wissenschaftliche Objektivität vorgibt, dem jedoch der ganzheitliche, einschließlich transzendentale Bezug schlichtweg fehlt. 

Menschen, denen letzterer – aus welchen Gründen immer - nicht möglich ist, sind lediglich um diesen Part ärmer, nicht mehr – nicht weniger. Wer hinter wolkenverhangenem Nachthimmel den Mond nicht sieht und daher seine Existenz strikt leugnet, ist um ein Stück Wissen ärmer, doch solange derartiges Leugnen nicht zum Dogma erhoben wird - so what?

Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl