Du sagst, daß es am Anfang der Demokratie nicht demokratisch zugeht. Das ist wie gesagt insofern nicht möglich, als es noch keine Regeln gibt, an die man sich halten könnte. Aber es ist ein Unterschied, ob man sich dabei einigermaßen im Sinn der späteren Regeln oder eher diktatorisch verhält. Im zweiten Fall würde ich dir recht geben. Aber auch im ersten meinst du ja: diejenigen, die sich das nicht ausgedacht haben und vielleicht einfach in Ruhe weiter Ackerbau und Viehzucht treiben wollen, werden da plötzlich in irgendetwas ihnen fremdes verwickelt, zu dem sie jetzt Stellung nehmen sollen. Ist das vielleicht demokratisch oder grenzt es nicht an eine Vergewaltigung? Wenn es nicht so wie im zweiten Fall abläuft, ist es das normale Leben. Wer das nicht will, sollte auf eine einsame Insel ziehen. Da wird er nicht mit neuen Ideen behelligt. Man könnte ja auch umgekehrt sagen: die Vorstellung, daß das Leben stillzustehen habe, ist eine Zumutung für die etwas weniger trägen Naturen. Die Anhänger der früheren Lebensweise sollen das Recht haben, sich herauszuhalten, das aber nicht für allgemein verbindlich erklären dürfen.Claus
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Nur ganz kurz: Ich finde, man kann ersten Demokraten nicht vorwerfen, daß sie nicht im Rahmen bestehender demokratischer Institutionen und Verfahren gehandelt haben. Es gab für sie ja noch keine. Man muss sie danach beurteilen, ob sie in einem demokratischen Geist gehandelt haben. Das ist doch der der Selbstbestimmung. Natürlich schaffen sie damit Startbedingungen für die, die nach ihnen kommen. Aber wenn sie ihnen kein Zwangssystem, sondern ein offenes System hinterlassen, könnten die doch eigentlich "danke" sagen.Ich weiß nicht, ob das mit den ersten Demokraten auf die Gründerväter zutrifft, da fehlen mir die Detailkenntnisse. Sie wurden ja offenbar schon gewählt. In einer repräsentativen Demokratie sollten die Abgeordneten den Wählern zwar vorher sagen, was sie vorhaben, müssen aber nach der Wahl nicht den Wählerwillen exekutieren, auf die Gefahr hin, dann nicht wiedergewählt zu werden.Aus unserer Sicht mögen frühere Wahlen schwere Mängel gehabt haben. Dann ist für mich eine entscheidende Frage, ob es die Möglichkeit gab (wenn auch vielleicht nicht für jeden), etwas an diesem Zustand zu verändern und etwa Selbstbestimmung für alle zu fordern, ohne daß einem dann die Obrigkeit an den Kragen geht. Das Paradies auf Erden wird es vermutlich nicht geben. Umso wichtiger ist die Möglichkeit der Selbstkorrektur.Es geht natürlich nicht, daß ein Gesetz schon deshalb in Kraft tritt, weil es in diesem Gesetz steht. Darüber entscheidet der Gesetzgeber. Ich nehme an, das waren die Gründerväter als gewählte Abgeordnete und ihre Nachfolger hatten das gleiche Recht.Grüße, Claus
-------- Ursprüngliche Nachricht --------Von: Rat Frag via Philweb <philweb(a)lists.philo.at> Datum: 04.05.19 08:50 (GMT+01:00) An: philweb <Philweb(a)lists.philo.at> Betreff: [Philweb] Die Luecke am Anfang jeder Demokratie [Philweb]Sehr geehrte Leserinnen und Leser der Phil-Liste,Liebe Mitschreiber beiderlei Geschlechts,ich habe mir in den letzten Tagen einige Gedanken gemacht und versuchediese, mal wieder, hier zu verbreiten, um damit eine Kritik zuermöglichen. Auch möchte ich damit mein Gehirn zwingen, eine möglichstlogische Ordnung zu finden.Folgender Ausgangspunkt der ÜberlegungDie Gründerväter der Vereinigten Staaten haben bekanntlich eineKonferenz abgehalten. Am Ende dieser Konferenz stand eine neue,ausgearbeitete Verfassung, die im Wesentlichen bis heute ihreGültigkeit hat.Das Problem ist jetzt, dass erstens die Leute, die die Gründerväterauf den Weg geschickt haben, gar nicht beabsichtigten eine neueVerfassung auszuarbeiten. Sie waren unter Umständen mit der altenKonförderationsverfassung vollständig zufrieden. Zweitens enthält der7 Artikel der Verfassung eine Regel, die festlegt, wann die neueVerfassung in Kraft tritt.Grade das hat meinen Geist gefesselt, denn hier regelt ein Gesetz dieKriterien seines Inkrafttretens selbst.Versetzten wir uns einmal ein die Lage so eines Abgeordneten,gleichgültig ob amerikanisch oder französisch: Wir wurden durch dasVolk (oder durch weitere Parlamente) gewählt, um gewisse spezifischeFragen zu beantworten. In Frankreich ging es um Steuern, in den USAsoweit ich weiß um Zollfragen. Das Volk hat uns in diesem Falleletztlich gewählt, um vor dem König (oder unter den einzelnen Staaten)seine Interessen betreffend dieser einen Frage zu vertreten. Niemand,der uns gewählt hat, hätte zu diesem Zeitpunkt ahnen können, dass wiruns zusammensetzen, um eine neue Verfassung zu entwerfen.Folglich, streng genommen, sind wir zu dieser Handlung selbsteigentlich nicht demokratische legitimiert. Natürlich könnte man dasProblem lösen, indem man eine Volksabstimmung fordert mit der Frage"Soll der Konvent eine neue Verfassung ausarbeiten? Ja oder Nein?"Es stellt sich hierbei nur die Frage: Impliziert eine solcheVolksabstimmung nicht breits eine Form der Demokratie? Schließlichwurden dabei eine Reihe von heiklen Entscheidungen schonvorweggenommen. Wer darf abstimmen, wer gehört in dem Sinne zum Demos?Dürfen Strafgefangene abstimmen? Leute, die wegen Schulden inBeugehaft sich befinden? Frauen oder Sklaven? Für die Abgeordneten desBallhauses in Frankreich und den US-Gründervätern scheint es offenbarkein Problem gewesen zu sein, Sklaven und Frauen von der Wahlkategorisch auszuschließen. Dabei mussten auch diese Gruppen unter denEntscheidungen leiden.Auch der Modus, in dem ein solcher Konvent gewählt wird, hatAuswirkungen. Ein Majorzwahlrecht mit Ein-Mandats-Wahlkreisen führt zueiner anderen Zusammensetzung des Konvents als eine Listenwahl odereine Wahl nach Präferenz, wie wir es zum Teil bei Wikipedia bestaunendürfen. Man könnte theoretisch auch fragen, wieso es keine Quoten fürbestimmte Gruppen geben sollte, seien es geographische oder sonstigeoder warum nicht einige Abgeordnete auch ausgelost werden sollten.Auch stellt sich hier eine nicht von vornherein illegitime Frage:"Wieso dürfen die Wähler zum Zeitpunkt X einen neuenVerfassungskonvent wählen, spätere Wähler aber nur eine Legislativeoder ein Parlament und dergleichen? Warum darf diese VersammlungGesetze mit Verfassungsrang verabschieden, spätere müssen sich aber andie Regeln dieser Versammlung halten?"Es erscheint in der Tat willkürlich, wieso z. B. im Falle der USA dieGründerväter eine Verfassung verabschieden konnten, spätereGenerationen aber nur noch im Rahmen dieser Verfassung politischagieren sollten. Selbst eine Art permanente Verfassungsentwicklung,wie es teilweise im Vereinigten Königreich der Fall ist, ist keineAntwort auf die Frage. Denn dort gibt es einen de facto Ist-Zustand,der auf vorangegangenen Konventionen basiert. Es gibt hier zwar keinenprivilegierten Zeitpunkt X, aber dennoch eine Reihe vonEntscheidungen, die von ganz anderen Leuten im anderen Zusammenhanggetroffen wurden.Das Problem scheint mir mit einem Satz zu lauten: Man kann dieAusgangsbedingungen einer Demokratie nicht seinerseits demokratischlegitimieren. Am Anfang jeder Demokratie muss eine Art diktatorischeroder revolutionärer Akt stehen, in welchen ein Verfassungsgeber, "Ratder Weisen" oder ein hobbesianischer Friedensverhandlung sich selbstlegitimiert.Die Juristen (Staatsrecht) haben sich ebenfalls mit diesem Problembefasst und sind zum Konzept der "Volkssouveränität" gelangt. Nachdiesem Konzept ist das Volk "souverän" also auch über dem Gesetzstehend.Mit dieser souveränen Kraft kann das Volk dann auch jederzeit eineVerfassung absetzen oder eine neue bestimmen. Das Konzept mag ausjuristischer Sicht passend sein (die Juristen haben damit wohlBauchschmerzen, sagt das Internet), aber das philosophischer Sichtbleiben fragen offen:- Wieso liegt die Souveränität grade beim Volk? Könnte man sich nichtvorstellen, diese Souveränität etwa beim Parlament liegt (wie inEngland vielleicht) oder irgendwer sonst? Wieso sollte überhauptjemand über den Gesetz stehen können?- Wieso sollte es so etwas wie einen Souverän überhaupt geben?- Auch ist die Lehre lückenhaft. Was ist mit der Wahl, wie setzt sichder Konvent zusammen und wann entscheidet er, Konvent zu sein? Es gibtkeine schlüssige Antwort, die sich aus dem Konzept der Souveränitätdes Volkes ergibt.Was denkt ihr soweit? Ist meine Schlussfolgerung (Demokratie beginntquasi als Revolution) korrekt? Oder habe ich etwas übersehen, was michwiderlegt?Gruß in die Runde,Ratfragender._______________________________________________Philweb mailing listPhilweb@lists.philo.athttp://lists.philo.at/listinfo/philweb