Am 15.04.2021 um 18:02 schrieb Rat Frag
<rat96frag(a)gmail.com>om>:
Dass die Welt sich quasi selbst geschaffen hat, scheint mir rein
logisch jetzt auch nicht besser oder schlechter begründet als andere
Annahmen.
Sie folgt meines Wissens auch nicht direkt aus der Urknalltheorie oder
der Inflation.
Jetzt wüsste ich aber ehrlich gesagt keinen Gläubigen, denn solche
Hypothesen in eine Krise gestürzt hätte. Paradoxerweise scheint die
Evolutionstheorie eher ein verhaßter Gegner zu sein als die
Kosmologie.
Es wäre auch interessant, warum? Theoretisch ist der Glaube einer
ewigen Welt unvereinbar mit den Glauben an eine Schöpfung. Allerdings
kann man die "wissenschaftliche" Version der Ereignisse wahrscheinlich
leichter positivistisch deuten. Und in der Tat, die Modelle des 19.
Jahrhunderts sind ja heute auch relativ hinüber.
Hi RF,
Haeckel schrieb in seinen Welträtseln: "Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung im
großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im unendlichen Weltraum Millionen von
kreisenden Weltkörpern nachgewiesen hat, größer als unsere Erde und gleich dieser in
beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von `Werden und Vergehen'.“
Der Mann war allerdings Biologe und kein Physiker, insofern wird er naiv von „unendlich“
gesprochen haben; dass etwas schlicht ohne Ende sei, es sich aber nicht um ein
Aktual-Unendliches handele.
Einstein vermutete dann ein in sich geschlossenes, statisches Universum, eine Vorstellung,
gegen die der Priester und Astrophysiker Lemaitre opponierte. Denn für Gläubige muss es
natürlich einen Anfang der „Schöpfung“ geben. Zu Einsteins Verdruss fand Lemaitre eine
dynamische Lösung der Feldgleichungen, die auf einen Anfang hindeutete. Und Hawking war es
dann, der den Nachweis der vielen Singularitäten auf die eine Ursprungssingularität
übertrug, aber eigentlich wieder auf Einsteins Traum von einem kontinuierlichen Universum
ohne Anfang zurückkommen wollte. Das gelang ihm mit der „Keine-Grenzen-Hypothese“:
"Zeit und Raum sind endlich in ihrer Ausdehnung, haben aber keine Grenze und keinen
Rand. Sie wären damit wie die Oberfläche der Erde, nur daß sie zwei weitere Dimensionen
hätten. Die Oberfläche der Erde ist endlich, weist aber keine Grenze auf. Bei keiner
meiner vielen Reisen ist es mir bisher gelungen, über den Rand der Erde zu fallen. Wenn
diese Keine-Grenzen-Hypothese richtig ist, gäbe es keine Singularitäten, und die
Naturgesetze behielten überall ihre Gültigkeit, auch im Anfang des Universums. Die Art,
wie das Universum entstanden ist, wäre den Gesetzen der Wissenschaft unterworfen.“ So die
Übersetzung in „Einsteins Traum“.
Caroline Jonas hatte auf der Physikerinnen-Tagung 2020 in Hamburg einen Vortrag gehalten
über "Early Universe Cosmology, the No-Boundary Proposal“:
https://www.conferences.uni-hamburg.de/event/126/contributions/425/attachme…
<https://www.conferences.uni-hamburg.de/event/126/contributions/425/attachments/184/334/CJ_WomenInScience.pdf>
Jetzt habe ich sein Werk nicht gelesen, aber ausgehend
von dem Zitat:
Im Weseten scheint die "östliche" Mystik immer populärer zu werden.
Insbesondere sowas wie Buddhismus. Ich vermute, dass das auch viel mit
der Meditation und der Atmentechnik zu tun hat.
Die Tatsache, dass es bestimmte Übungen gibt, die den Menschen
Entspannung schenken, wird ja vom Atheisten an sich nicht bestritten.
Eventuell ist das eine post-religiöse Form der Spiritualität, deren
Aufstieg wir heute erleben?
Wieder mehr „Sinn“ in das Philosophieren hier zu bringen, hat ja gerade Joachim angemahnt.
Aber sollte man die intellektuelle Redlichkeit dabei vergessen? Der Versuch Metzingers
„Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit" ist klickbar:
https://www.philosophie.fb05.uni-mainz.de/files/2014/04/TheorPhil_Metzinger…
Der
Mathematiker Clifford formulierte zwei wesentliche Maximen, die auch zur intellektuellen
Redlichkeit in einer „Weltanschauungspsychologie“
taugten: "1. Es ist zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jede Person falsch, etwas
aufgrund unzureichender Beweise zu glauben. 2. Es ist zu jeder Zeit,
an jedem Ort und für jede Person falsch, für die eigenen Überzeugungen relevante Beweise
zu ignorieren, oder sie leichtfertig abzuweisen.“
Nun, die 2. Maxime halte ich für gut, aber undurchführbar. Wer kann
sich schon mit jedem Einwand seiner Kritiker befassen?
Der Naturalist müsste aus dieser Perspektive ja Universalgelehrter
sein um auf mögliche Einwände aus Biologie, Astrophysik usw. zu
reagieren.
Ob ein Beweis hinreicht, lässt sich in der Regel in der scientific community überprüfen.
Aber ist es im Alltag wesentlich anders, wenn man nicht gläubig, sondern freidenkend lebt?
Die 1. Maxime lehne ich persönlich ab.
Ich habe das pragmatische Verständnis, dass wir manchmal auf Basis von
unzureichenden Informationen urteilen müssen. So etwas wie ein
mathematischer Beweis ist ein ziemlicher Extremfall. Eine Abschätzung
ist dagegen viel eher die Regel.
Dem Unterliegt übrigens auch der Fachmann: Auch der muss außerhalb
seines Fachgebietes mit einem geringeren Beweisstandard zufrieden
sein.
Im Alltag agieren wir natürlich zumeist intuitiv, aber sollten wir einmal Zeit und Muße
haben, spricht doch nichts dagegen, möglichst alle relevanten Beweise hinsichtlich der
eigenen Überzeugung in Erwägung zu ziehen - außer vielleicht unsere Neigung zur Vermeidung
kognitiver Dissonanz beim Vertreten dogmatischer Überzeugungen.
Metzinger zitiert Clifford mit den Worten: "Wenn jemand vorsätzlich das Lesen von
Büchern und die Gesellschaft anderer Menschen, die kritische Fragen aufwerfen, vermeidet,
dann ist das Leben dieser Person eine einzige lange Sünde gegen die Menschheit.“ Der Mann
war offenbar nicht nur Mathematiker, sondern auch Moralist.
IT