Ausgehend von der hier aufgeworfenen Frage „warum glaubt der Mensch an
abstrakte Entitäten“ habe ich versucht, diese Frage zunächst im Kontext
der Anthropogenese (insbes. Cerebralisation und Kortikalisierung) zu
erörtern, da (bewusstes) „glauben“ definitiv eine komplex entwickelte
Gehirnstruktur voraussetzt, die zu konditionierter Wahrnehmung von
Objekten und Erscheinungen eines gegebenen Lebensumfelds sowie zu deren
kognitiver Verarbeitung ausgebildet ist.
Komplexe Wahrnehmungsverarbeitung (die über die ursprünglich primitive
und von diffusen Gefühlen beeinflusste, vage Deutung und Einordnung
unbewusster Empfindung hinausgeht) ist mit dem Begriff der Apperzeption
verknüpft, als einem hochkomplex mentalen Prozess, der jedoch weiterhin
stark von Emotion und Motivation, von sozialer Konditionierung und
Einbindung, diversen Interessenlagen und sonstigen Variablen beeinflusst
wird.
„Glauben“ (an abstrakte Entitäten) setzt die Wahrnehmung spezifisch
sensorischer Informationen voraus, auf dessen Basis die subjektive
Vorstellung eines abstrakten Phänomens oder einer angenommenen Wesenheit
(Entität) entsteht. Unter diesem Aspekt steht Apperzeption in
Verbindung mit spiritueller Erfahrung, die über ein mental
reflektierendes, kontemplatives Geschehen gewonnen wird. Dieser
Imaginationsprozess führt zum entscheidenden Erkenntnisakt, nämlich der
Bewertung und Einordnung von (spiritueller) Wahrnehmung als eine
Bewusstwerdung von abstrakt jenseitiger Entität. Dieser
Bewusstseinszustand vermittelt jedoch lediglich ein an den Wahrnehmenden
gebundenes d.h. subjektives Wissen im Sinne einer Selbstzuschreibung von
Überzeugung ggf. zufolge wachsender Vertrautheit mit spiritueller
Thematik, was bestenfalls ein "glauben an, weil überzeugt von etwas"
zulässt.
Diesbezüglich nicht widersprüchliches, objektives Wissen muss identisch
mit sich und seinem Konstituens sein und kann daher mangels umfassender
Intersubjektivität nicht erreicht werden. Aus derart subjektiv
sinnlich-rationaler Erkenntnismelange hervorgebrachte religiöse
Phänomene könnten sich jedoch durch kommunizierte
Transzendenzerfahrungen kollektiv-kommunikative Strukturen als Vorstufe
von Religionen herausgebildet haben. Zunächst ethnische Religionen, die
infolge eines imaginiertem „Jenseits im Dienseits“, entstanden sind sich
durch Glauben an Geister, Dämonen, Urahnen, Götter, schlicht beliebig
numinöse Wesenheiten verfestigt haben; im weiteren Verlauf der
Weltgeschichte dann Religionen mit Offenbarungscharakter, hervorgebracht
durch Propheten und Religionsstifter. Jene Religionen also, die
Gesellschaften der westlichen Hemisphäre durch Missionierung wie auch
mittels weltlich-klerikaler Machtinstrumente religiös oktroyiert und
geprägt haben.
Grundsätzlich finden sich heute verschiedene Formen von Religiosität,
nämlich eine kirchlich orientierte, eher dogmatische und eine
überkonfessionelle, eher persönlich spirituell ausgerichtete
Religiosität, die nicht selten esoterische Formen annimmt. Abhängig vom
(naturwissenschaftlichen) Bildungsgrad und vom Ausmaß der
Sekularisierung diverser Gesellschaften zeichnet sich jedoch eine
deutliche Abkehr von dogmatisch ausgerichteten Religionen vor allem von
deren Institutionen ab. Das grundsätzliche Interesse bzw. die (innere)
Zuwendung zu Religion ist hingegen ungebrochen. Bedauerlicherweise wird
diese Hinwendung (zumeist die Sinnsuche) junger Menschen durch brachiale
Missionierung schriftentreuer Fundamentalisten missbraucht.
Die Frage, warum Menschen an eine abstrakte Entität glauben
(letztendlich sich als den Glauben an einen persönlichen Gott
erweisend) ist demnach ungebrochen aktuell. Anthropogenetische wie
grundsätzlich mentale Voraussetzungen für spirituelles und religiöses
Empfinden sowie das Glauben des Menschen wurden zuletzt und hiermit
dargestellt, für die Erörterung des „warum“ (heute noch und überhaupt)
bleibt noch beliebiger Spielraum ebenso wie hoffentlich Zeit und Muße.
Bester Gruß in die Runde! Karl
PS: Anmerkung angesichts der augenblicklich grassierenden Genderisierung
unserer Sprache: ich bin der Überzeugung, dass sich jede umfassend
gebildete Frau über die Unmöglichkeit einer solchermaßen nachträglich in
die deutsche Sprache einzubringenden geschlechtsbezogenen Symbolik (*
X/Innen etc.) insbesondere für umfangreiche Schriften im Klaren ist.
Überdies sollte die lesende Person mit dem Gebrauch des generischen
Maskulinums schlichtweg als Mensch angesprochen und somit jegliches
irrwitzige (Un-)Gleichheitsempfinden ausgeschlossen sein.