Am 23.08.2019 um 00:39 schrieb Rainer Alisch via Philweb:
[Philweb]
liebe Runde,
ich hoffe, Ihr sehr es mir nach, wenn ich Euch nochmals mit zwei langen Texten heimsuche
(es bringt nicht einen Link zu versenden, die Süddeutsche kassiert ab), der erste von
Armin Nassehi nimmt in gewisser Weise die Problematik auf, die Claus nachfolgend
formuliert: "Aber es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie
verschärfte soziale Kontrolle in der Praxis aussehen und wer dabei gewinnen und verlieren
würde.“
Paech antwortet darauf im Prizip mit den bekannten Thesen, dass ein wie gehabt weiterso,
verbunden mit grünen Illusionen nicht funktionieren wird. Die Frage bleibt was dann und
ich denke, hier sind u.a. auch Philosophen gefragt, die aufs „Ganze“ gehen, das „Ganze“
denken können/müssen, denn wie Nassehi polemisch formuliert, geht es ja ums „Ganze“,
herzlich, Rainer
Von wegen „Lust am Schweigen“! Bei den nun (erfreulicherweise) hier
eingegangenen Beiträgen spannt sich ein weiter Bogen über hochaktuelle
Themen (auch wenn diese in ihrer Grundform seit Menschengedenken
existieren), die es uns philweb-Zeitgenossen schwer machen dürften, dazu
in lustvollem Schweigen zu verharren; eher doch im mühsamen, wie aber
auch erbaulichen Versuch, hierzu aufkommende „Gedanken zu verfestigen“
und darzulegen.
Für mich ist die Einlassung „Die Frage bleibt was dann und ich denke,
hier sind u.a. auch Philosophen gefragt, die aufs „Ganze“ gehen, das
„Ganze“ denken können/müssen.“ von zentraler Bedeutung: Das Ganze
denken! Damit meine ich definitiv nicht parapsychisch angelegte
„Ganzheitsphantasien“, sondern das „geistige“ Heraustreten aus
isolierten, auf Mikro- oder Scheinwelten reduzierte (gar ideologisierte)
Sichtweisen. Für mich ist "das Ganze denken" nahezu die einzige
Möglichkeit, mich angesichts solcher hier angesprochenen Fragen und
Problemfelder aus jeweils aufkommender Niedergeschlagenheit (verstärkt
durch leidige Konflikt-Antizipation) zu befreien - gleichsam wie
Münchhausen sich selbst aus dem Sumpf zieht – technisch gesprochen:
bootstrap.
Um das Ganze (hier) sogleich nicht zu langatmig, zu unleserlich werden
zu lassen, springe ich mal zwischen den jüngsten Beiträgen, teile auf
und binde meine (hoffentlich hinreichend verfestigten) Gedanken an
jeweilige Zitate.
CZ: "Aber es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie
verschärfte soziale Kontrolle in der Praxis aussehen und wer dabei
gewinnen und verlieren würde.“
Letzteres führt mitten hinein in das hier derzeit auch diskutierte Thema
„Theorie der Gerechtigkeit“ und damit direkt zu Rawls. Meiner Meinung
nach geht es dabei nicht vordergründig um streng soziale Gerechtigkeit,
sondern zunächst um die - unweigerlich damit verknüpfte - gerechte
Verteilung von Wirtschaftgütern (frei nach Brecht.: erst das Fressen,
dann die Moral; wobei daraus geschlossen werden könnte, dass Teilen von
Gütern, Arbeits-/Lebensraum etc. mit „gefüllten Mägen“ leichter gelingt).
Dem Wesen von Gerechtigkeit liegt zugrunde (vermutlich in Anlehnung an
Ulpian, römischer Jurist 170–228 n. Chr.), jedem sein Recht („ius suum“
) zuzuteilen. Und dieses „Zuteilen“ (iustitia distributiva) würde nach
Rawls' Gerechtigkeitsprinzip („original positon“) absolut gerecht
erfolgen, wenn das Verteilen sozialer sowie wirtschaftlicher Güter von
jeweiligen Verteilungs-Entscheidern erfolgen würde, die hinter einem
"Schleier des Nichtwissens" ("veil of ignorance") - somit ohne ihre
persönliche Rolle, ihr Los im Entscheidungsbereich zu kennen - über das
„gleiche Maß“ der Zuteilung bestimmen. Den beteiligten Parteien fehlt
damit die Basis für Verhandlungen bzw. Vorteilnahme im üblichen Sinn.
Als lebenspraktisches Beispiel fällt mir dazu eine Kindergärtnerin ein
(emotional an kein einzelnes Kind gebunden), die einen (von Eltern
mitgebrachten) Geburtstagskuchen zunächst in exakt gleiche Teile
schneidet. Damit ist dem Grundprinzip von Gerechtigkeit objektiv Genüge
getan. Zunächst: denn es zeigt sich, dass einige Kinder gar nicht so
gerne Kuchen essen, andere hingegen umso mehr. Damit beginnt
(üblicherweise) ein durch subjektive Einschätzungen resp. Interessen
bestimmter Verteilungsmechanismus, der nunmehr vom Ausgang einer
möglichen Übereinkunft abhängt, die von unterschiedlichen Potenzialen
(rhetorische bzw. körperliche Vormacht etc.) bestimmt sein wird. Eine
daraus sich ergebende Malaise könnte durch Rawls' zweites
Gerechtigkeitsprinzip (difference principle) gemildert oder sogar
aufgelöst und damit eine „echte Versöhnung der Interessen“ bewirkt
werden (Rawls):
"Soziale und ökonomische Ungleichheiten sollen so beschaffen sein,
dass sie zum größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten sind, und
an Ämter und Stellungen geknüpft sind, die allen offen stehen unter
Bedingungen fairer Chancengleichheit."
Das liest sich gut, gewissermaßen als Rechtfertigung der Unterschiede
hinsichtlich Reichtum oder sozialem Status. Rawls betont, dass „im
Urzustand“ ( „veil of ignorance") verteilende Individuen immer das
„Prinzip der Gleichverteilung“ wählen würden. Das bezieht sich auch auf
das Prinzip der gleichen Freiheit, welches immer Vorrang gegenüber dem
Differenz-Prinzip hat und das bedeutet, dass Freiheitsbeschränkungen („
wie verschärfte soziale Kontrolle“) nicht mit der Verbesserung der
individuellen sozialen oder ökonomischen Situation einer Gesellschaft
gerechtfertigt werden können.
Soweit für den Augenblick.
Mit bestem Gruß an Dich und in die Runde! - Karl