Am Di., 10. Jan. 2023 um 16:23 Uhr schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb
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für einen Nihilisten sind nach dem Vorbild der
Wissenschaft nur Beweise wesentlich, der Rest ist Brimborium — auch in Alltag, Lebenswelt
und
Gesellschaft. Kriege sind davon nicht ausgenommen; denn Kriegsverbrechen müssen ebenfalls
bewiesen werden. Zudem gilt es, die jeweils
wesentlichen Kriegsursachen zu identifizieren und aus ihrem historischen Zusammenhang
heraus die militärischen Operationen bis hin zu den
Frontverläufen zu verstehen. Philosophen sind dabei als Aufklärer und Ideologiekritiker,
als Propagandisten und Ideologen gefragt, je nach
der Kriegspartei, für die sie arbeiten.
Diese Formulierung impliziert, dass eine Seite auf Aufklärung und in
der Folge auf Ideologiekritik basiert und die andere Seite auf
Ideologie und Propaganda.
Ich kann mich dieser Beurteilung nicht völlig anschließen. Zwar
scheint es einleuchtend, dass sich ein Aufklärer nicht als
Propagandist hergeben wird, aber ich denke, dass beide Seiten immer
auch eine gewisse Ideologie haben werden.
Es scheint mir unvermeidlich zur Motivation "wofür wir Kämpfen" und
"wogegen wir sind" etc.pp.
Was den Nihilismus angeht: Ich habe noch nie jemanden gesehen, der
sich unironisch selbst als Nihilisten bezeichnet hätte. Bis auf
einige, wie ich vermute, sarkastische Jugendliche im Internet unter
denen ich einige ernst gemeinte Selbstbezeichnungen nicht ausschließen
kann.
Was den hier debattierten Zusammenhang angeht, so wiederhole ich mich,
dass man differenzieren muss zwischen:
1. Der theologischen/metaphysischen/ontologischen Frage, ob ein Wesen
wie Gott existiert
2. Falls man dieses und auf welchen Wege beweisen kann.
3. Die Rolle, die die Religion oder die Verhaltensmuster, welche wir
im westlichen Kontext als "Religion" bezeichnen, in menschlichen
Gesellschaften spielen. Insbesondere (scheinbar oder tatsächlich)
irrationale Verhaltensweisen, Rechtfertigung von Übeln wie
Unterdrückung und Krieg, aber auch Rechtfertigung von sowas wie Moral
und Gerechtigungsvorstellungen und Lebenshilfe.
4. Welche Rolle Religion in einer Gesellschaft spielen sollte als
normative Frage.
Die Frage (4) wird von den "neuen Atheisten" mit erfreulicher Klarheit
beantwortet: Gar keine. Was jemand privat glaubt sollte überhaupt
keine Rolle in der Öffentlichkeit spielen. Vertreter der großen
christlichen Konfessionen, sowie viele traditionelle Agnostiker usw.
mäandern in dieser Fragestellung wesentlich mehr herum.
Man kann aber auch der Meinung sein, dass Religion streng Privatsache
sein soll, wenn man gläubig ist.
Was die Frage (3) angeht... Hier habe ich im Laufe der letzten Jahre
meine Meinung schrittweise ändern müssen. Betrachtet man berichte über
Religion aus dem Altertum oder von Anthropologen, so kommt man auf den
Gedanken, dass irgendwelche Tabuvorstellungen schon eine wichtige
Rolle in menschlichen Gesellschaften spielen könnten.
Es ist dabei gleichgültig, dass der Versuch, eine Moral aus den
Geboten Gottes abzuleiten philosophisch fragwürdig ist.
Ich schließe das hier. Es tut mir leid.