Am 01.09.22 um 17:34 schrieb waldemar_hammel über PhilWeb:
wenn du, karl, das prinzip vom maturanas "autopoiesis" wirklich
verstanden hättest, inkl der implikationen, die sich daraus ergeben,
dann würdest du auch selbstreferenz und radikalen konstruktivismus
verstehen, und mein gesabbele von ww usw "kostenlos" als beigaben dazu
- das ganze zusammen erklärt dennoch nicht wirklich sachen wie
"bewusstsein" usw, aber es nähert sich sehr deutlich an, als
autopoiese nicht an
"hardware", sondern an strukturen festzumachen ist (also sagen wir
"software"), auf bereits molekularer ebene (sehr sehr einfach gesagt:
"alles denkt und hat bewusstseine, was interagiert")
Mit radikalem Konstruktivismus habe ich natürlich nicht's am Hut.
Übrigens auch nicht v. Foerster, wie er selbst glaubhaft versichert. Es
ist natürlich nicht das Prinzip von Autopoiesis, resp.
Selbstorganisation, welches ich kritisiere oder gar leugne, sondern die
ideologische Vereinnahmung einer Denkrichtung, wie sie von Varela und
Maturana in den 1970ern durch die NewAge-Bewegung betrieben wurde.
Diesen Träumereien bin ich derzeit ebenso erlegen. Habe Varela selbst
auf einem Kongress kennengelernt. Heute gibt es weiterführende Ansätze,
so z.B. in der synthetischen Biologie. Ich erlaube mir aus deren
Webauftritt zu zitieren:
"Was ist Leben? – das ist eine uralte Kernfrage der Biologie, die sich
als Wissenschaft mit den Lebewesen beschäftigt. Doch bis heute bleibt
das Phänomen Leben enorm komplex und schwierig zu fassen. Je nach
Perspektive und Wissenschaftsdisziplin – ob Biologe, Chemiker, Physiker
oder Philosoph – gibt es viele verschiedene Versuche, sich einer
umfassenden Definition von Leben anzunähern. Eine allumfassende
Definition haben die Forscher bisher jedoch noch nicht gefunden."
Ich schrieb hierzu: Es ist schlichtweg die enorme Komplexität
biologischer Systeme, die hier immer noch einem abgeschlossenen und vor
allem ganzheitlichen Verständnis der Körperlichkeit und der damit
verbundenen mental prozessualen Vorgänge in ihrer Ganzheit entgegen steht.
Wenn ich von Ganzheit resp. vom Fehlen ganzheitlichen Verständnisses des
Prinzips Leben spreche und Biologen davon ausgehen, sie hätten noch
keine "allumfassende Definition von Leben" gefunden, was sollte dann an
meiner Aussage zu kritisieren sein? Allenfalls, dass ich mich der
Meinung dieser Fachleute blind anschließe. Wenngleich ich von Biologie
wenig verstehe, glaube ich dennoch einschätzen zu können, was zu diesem
Thema publiziert wird.
Doch nochmal zurück zum Konstruktivismus und Autopoiesis und meiner Rede
von der Komplexität der Lebewesen. Autopoiesis steht für viele
Systemzusammenhänge und ist bezeichnend besonders für spezifisch
autonome hochkomplexe (längst nicht nur biologische) Systeme, wenngleich
die Anwendung auf gesellschaftliche Strukturen umstritten ist (das meine
ich mit ideologischer Vereinnahmung der Aussagen von Varela und Maturana).
Wir haben hier Gehirnstrukturen thematisiert und es sollte selbstredend
konsensfähig sein, dass es sich dabei um hochkomplexe Prozessabläufe
handelt. Keiner von uns ist Neurowissenschaftler (es sei denn, es
versteckt sich einer stumm in der Liste), also bleibt hier nur ein
allgemeinbildender Austausch über ein interessantes Thema ohne den
Anspruch an eine Wissenschaftlichkeit, dem schlichtweg nicht entsprochen
werden kann. Wer das sucht, findet zu Tausenden Schriftgut im Internet.
Für ein Forum wie philweb kann dieser Anspruch nicht erhoben werden,
denn wer soll hier noch schreiben, wenn immer nur im Sinne einer
mathematische Beweisführung argumentiert werden müsste.
Aber nochmal kurz zur Selbstreferentialität. Nach diesem Prinzip werden
intrinsische Zustände eines Systems auch nur intern gesteuert. Dabei
anzunehmen, diese Steuerung erfolgt strikt ohne äußeren Einfluss, ist
m.E. unzutreffend. Es besteht zwar zweifelsfrei eine operative
Geschlossenheit: bezogen auf Gehirnprozesse bedeutet dies, das Gehirn
nimmt nur eigene intrinisische Zustandsveränderungen wahr, ein an das
Gehirn weitergeleiteter Reiz kann lediglich Selbstveränderung
initiieren, die dann wahrgenommen wird.
Bezogen auf die strukturelle Kopplung zur Umwelt wählt das System
autonom seine Außenkontakte selbst aus und lediglich – doch immerhin –
erklärt sich damit der erkenntnistheoretische Konstruktivismus.
Was uns (wer ist schon uns – diese paar schreibenden Hanseln?) hier
umtreibt, sind die unterschiedlichen persönlichen Weltanschauungen. Mal
nimmt man sie gelassen hin, mal ereifert man sich. Ich trachte mit
„gläubiger Inbrunst etwas in seiner „Ganzheit“ zu erfassen“ (wie Ingo es
richtig formuliert), Du betreibst Reduktionismus vom Feinsten und
huldigst dem Konstruktivismus, keilst gegen alles, was nach Religion
riecht. Wen sollte es wundern, dass hier so wenige mitschreiben!?
Ja, es sind die weltanschaulichen Befindlichkeiten, die hier immer
wieder hereinspielen und Unmut aufkommenden lassen. Warum kann es nicht
gelingen, jeweilige Ansichten ohne Animositäten auszutauschen? Jede
Diskussion versandet immer wieder hinter unüberwindbaren Dünen
persönlich weltanschaulicher Differenzen.
Natürlich wird man die jeweils persönliche Weltsicht nicht über Bord
werfen, nur weil hier Gegenargumente vorgebracht und diskutiert werden.
Gegensätzliche Ansichten zu bekämpfen, kann aber niemals Ziel von
Diskussionen hier sein. Was mich stört (obgleich ich es ja auch so
betreibe) ist das Diktum der Beiträge. Wir sind an diese Schreibform
gewöhnt und nachdem man ja nicht nur im Konjunktiv schreiben kann,
wirken Aussagen immer etwas absolut. Dieser aufscheinende
Absolutheitsanspruch stört oder irritiert zumindest. Bisweilen kommt das
auch ziemlich „von oben herab“, so als würden hier ungebildete Trottel
diskutieren.
Letztlich entsteht hier der Dissens immer wieder, wenn auch nur der
Anschein eines Bezugs auf Religion, Gott o.ä. aufkommt. Wo ist die
Grenze zwischen (Natur-)Wissenschaft und Religion möchte man fragen und
sollte doch wissen, dass es diese eigentlich nicht gibt. Wenn Du
Religion als animistisches Relikt im Menschen deutest, dann betrifft das
(selbsternannte) Atheisten gleichermaßen wie Christen oder sonstig (an
was auch immer) Glaubende. Für erstere bestimmt das evolutionär
entwickelte Sein das Bewusstsein und damit bewusstes Leben, für letztere
ist Evolution auf ein Ziel ausgerichtet und damit ist Leben zweck- und
sinnorientiert. Zweifelsfrei ist der Mensch ein Produkt der Evolution
aber gleichwohl mit einem Gefühl für Ziele, Ethik und Werte
ausgestattet, die kaum einem pur zufälligem Entwicklungsprozess ohne
Sinn und Zweck entstammen können.
Mögen die einen dem Zufall huldigen (immerhin essentiell bedeutsam für
die Entstehung alles Lebens) und die anderen an einer einem Sinn
zugeordneten Evolution festhalten, die letztlich aufsetzt, auf eine
transzendentale (außerhalb der erkennbaren Naturgesetze stehende) Größe
resp. Wesenheit, als Verkörperung sowohl dieses Sinnes und Zieles der
Höherentwicklung von Lebewesen hin zum Menschen.
*
ich habe übrigens einen dir, karl, bestimmt sehr zusagenden guten
spruch zufällig gefunden, ist vom kolumbianer nicolas davila:
"um gott herauszufordern, bläht der mensch seine eigene leere auf"
(erinnert an manche frösche und lurche, die sich auch aufblähen, um
größer zu erscheinen, zu drohen, uä.)
Er sagt mir deshalb nicht zu, weil ich mich durchaus nicht als leere
Hülse verstehe. Dazu muss ich mich nicht "aufblähen" :-))
Beste Grüße! - Karl