Naja, "genial gelebt" bringt es wieder in die falsche Richtung...
Auch wenn man natürlich mit dem Wort vorsichtig umgehen muß: aber ich würde schlicht von
"Tragik" sprechen (so etwa wie Georg Simmel von der "Tragödie der
Kultur" gesprochen hat). Unser westlich-aufgeklärtes, auf den bekannten Werten des
rationalen selbstbestimmten Individuums beruhendes Leben gerät in den Konflikt mit einer
Natur und einer (Um-)Welt, die eben eher genügsame, ihren biologischen Instinkten und
Selbstdezimierungsprozessen (Viren, Gendefekte und sonstige überlebenshinderliche
Schwächlichkeiten) unterliegende Spezies toleriert, als eine solche die kraft ratio und
Technik sich von (fast) allen natürlichen "Feinden" und Feindschaften (denn das
ist die andere Naivität der kleingeistigeren unter den Öko-Aposteln: die Natur steht uns
natürlich viel eher feindlich als freundlich gegenüber: ich sage nur Zecken, Heuschrecken
und Disteln!) unbesiegbar und damit sich "die Erde untertan macht", und zwar in
einem megalomanen Ausmaß, den das etwas unvorsichtige Bibelwort wahrscheinlich nie ahnen
konnte.
Aber angesichts der komplexen historischen, geistesgeschichtlichen, ethischen und nicht
zuletzt anthropologischen Voraussetzungen und Verstrickungen, die zu diesem tragischen
Konflikt geführt haben und führen mußten, nun zu meinen, es genügten einfache
"Umkehr"-Predigten und Verzichts-Appelle (die ja sowieso letztlich meist
neidgesteuert sind, weil "verzichten" sollen ja bloß immer die anderen), scheint
mir, wie gesagt, naiv, fragwürdig, falsch... Solche Praxen wie das, wofür symbolisch die
katholische Ablaßidee steht, leisten hingegen zumindest eines: sie belasten unseren
unweigerlich schuldhaften Lebenswandel mit einer unaufhebbaren Hypothek der Insuffizienz
(DAS wäre nämlich mein Schlagwort gegen Paechs neo-rousseauistische
"Suffizienz"-Idee!), des Ewig-Ungenügenden, ohne aber diesen Lebenswandel
gänzlich unmöglich zu machen: man "darf" trotzdem weiterleben, in
selbst-bestimmter, selbst-verantworteter Schuld, Demut und Fallibilität - anstatt auf
andere zu deuten, denen man Vorschriften zum einzig wahren und "reinen"
Lebensführung macht, um selbst nichts tun zu müssen.
So ungefähr hatte ich mir das gedacht mit diesem "laizistischen
Neo-Katholizismus"... aber sicher bin ich mir selbst natürlich auch nicht ganz...
Joachim Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Philweb <philweb-bounces(a)lists.philo.at> Im Auftrag von Karl Janssen via
Philweb
Gesendet: Mittwoch, 21. August 2019 09:41
An: Philweb(a)lists.philo.at; K. Janssen <janssen.kja(a)online.de>
Betreff: Re: [Philweb] Die Lust am Schweigen
[Philweb]
transmitted from iPad-Client
Am 21.08.2019 um 01:40 schrieb K. Janssen via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am 20.08.2019 um 23:27 schrieb Landkammer,
Joachim via Philweb:
[Philweb]
(Ich probier auch nur mal kurz meinen account wieder aus...)
nix da mit "nur kurz ausprobieren" :)) Wir sind froh, endlich wieder von Dir zu
hören! Und das bei diesem Beitrag, den es erst einmal genau zu lesen und zu überdenken
gilt.
Grüß Dich bestens! - Karl
> Nico Paechs grundsätzliche Endzeit-Ausführungen würde ich evtl. versuchen, mit einer
Rehabilitation des von ihm als Gegenmodell genannten, vielgeschmähten Ablaßhandels zu
unterlaufen. Denn genau das war ja der eigentliche, tiefere Sinn des Tauschs Geld gegen
Sündenerlaß: ein kleiner, überschau-, aber kontrollierbarer Zeitgewinn angesichts einer
eschatologischen (das Lebens- und Weltzeitende implizierenden), aber dann doch nie so ganz
gewissen Untergangs-Bedrohung. Die psychologisch schlicht unpräzise und unterkomplexe
Unterstellung dabei ist doch, daß, wer er sich von seinen Sünden "freikauft",
deswegen danach einfach kreuzfidel munter weiter sündigt, daß man also nur Scheinverzicht
treibt und lediglich kosmetische Oberflächen-Selbstkorrekturen vornimmt. Nein, die realen
(auch psychischen) Kosten des "Ablaßgeschäfts" erinnern mich permanent an meinen
ja immer nur provisorisch und temporär abgemilderten Status der (Erb!-)Sünde und zeigen
mir an, daß ich grundsätzlich (weiter) und immer "falsch" lebe. Das als
"Doppelmoral" zu bezeichnen (wie NP das tut), ist selbst eine hoch moralistische
Wehklage (auch sie mindestens so alt wie der lutherische Antikatholizismus), die verkennt,
daß Menschen eben grundsätzlich diese Dilemmata nicht nur leben, sondern "sind".
Wir SIND ökologisch eigentlich untragbar.
Unter diesem (höchst subtil ausgelegtem) Blickwinkel gesehen, würde N. Peach vermutlich
auch nicht von „Doppelmoral“ in Anbetracht der offensichtlichen Zwiespältigkeit in der
Lebensgestaltung diesbezüglich beschriebener Bevölkerungsgruppen sprechen. Eher wohl - und
auch da würde ich ihm zustimmen - wäre das gezeigte Verhalten einer (schon pathogenen)
Ambivalenz zuzuschreiben; eine Zerrissenheit zwischen unterschiedlichsten konzeptionellen
Denkansätzen, Theorien, Statements zu jeweils aktuellen Problemfeldern der absehbaren
Umweltkatastrophe. Eine Zerrissenheit, wie sie insbesondere auch bei jenen sichtlichen
Ausdruck annimmt, die unter dem unerträglichen Druck der Erbsünde und ihrer zwingend
darauf folgenden Verfehlungen leiden. Nitzsche sinngemäß: Die Katholiken - sie sehen mir
alle so wenig erlöst aus!
Welch Parallelen sich hier doch auftun! So wird „Ablasshandel“ tatsächlich zum Gnadenakt
für uns Erdenkinder - genial gelebtes „amor fati“.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
_______________________________________________
Philweb mailing list
Philweb(a)lists.philo.at
http://lists.philo.at/listinfo/philweb