Am 15.06.2020 um 16:18 schrieb Claus Zimmermann via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Wenn das Erleben nur eine Art nebensächlicher Fassade anderer Umstände oder Prozesse
wäre, wäre es doch mal einen Versuch wert, einen Roman zu schreiben, in dem statt
menschlicher Erlebnisse ausschliesslich die physikalischen, chemischen etc. Prozesse
vorkommen, die sie ja eigentlich ausmachen.
Hi Claus,
das scheint mir ebenso absurd wie Dir, aber mehrschichtig können wir es vielleicht ein
wenig genauer betrachten. Im Roman werden Erlebnisse umgangssprachlich beschrieben. Der
reine Text besteht nur aus Buchstabenfolgen. Erst beim Lesen entsteht dann so etwas wie
eine mentale Simulation des Textes im phänomenalen Selbstmodell (PSM) des Lesenden. Beim
Schreiben eines Romans ist es umgekehrt und ich nehme an, dass es bei allen Künsten so
ist, egal, ob es sich um Literatur, Musik, Malerei oder Filme handelt.
Jetzt ist natürlich die Frage, wie unser Hirn eigentlich das PSM generiert, in dem ständig
die Simulationen unserer (inneren und äußeren) Umgebung ablaufen und uns in Gedanken und
Gefühlen erscheinen. Die Umsetzung eines Textes in eine mentale Simulation ähnelt ja einer
Literaturverfilmung. Bei der wird der Roman in ein Drehbuch umgewandelt, nach dem der
Regisseur dann den Film herstellt.
Weiter frage ich mich, ob eine Romanverfilmung nicht auch so automatisiert ablaufen könnte
wie jeweils in unseren Hirnen? Das wäre die Herausforderung für eine künstliche
Intelligenz (KI), die auch künstliche Emotionalität (KE) aufweisen müsste. Könnten ähnlich
wie bei Musik und Malerei nach dem Auswerten der Korrelationen zwischen Romanen und
Drehbüchern sowie Drehbüchern und Filmen automatisiert zumindest Animationen hergestellt
werden?
Und so wie Groschenromane und Computerspiele schon lange nach standardisierten
Grundmustern generiert und zur Abwandlung dann lediglich randomisiert werden, werden auch
Romane und Filme wohl noch in diesem Jahrhundert automatisiert so generiert werden können,
wie es unsere Gehirne bereits seit Jahrhunderttausenden können. Ob menschengemacht oder
robotergeneriert, neben dem Unterhaltungswert der Spielereien machen die jeweiligen
Simulationen Sinn, indem sie Gedankenräume ausprobieren und das Probefühlen ermöglichen.
Aber würden wir einem Roboter, der sich als Romanautor und Filmemacher betätigte und daran
„erfreute", Intelligenz und Emotionalität zusprechen? Hinsichtlich des menschlichen
Verhaltens in der Gesellschaft wird die Spieltheorie schon lange eingesetzt, indem das
Verhalten an natürlichen Prinzipien ausgerichtet wird. Darüber haben Jani Anttila und Arto
Annila 2011 einen Artikel über "Natural Games" veröffentlicht:
https://arxiv.org/abs/1103.1656 <https://arxiv.org/abs/1103.1656>
Und wie beispielsweise der Neid zur Schichtenbildung in der Gesellschaft beitragen kann,
hat Claudius Gros gerade anhand eines verhaltensökonomischen Modells simuliert:
"Self-induced class stratification in competitive societies of agents: Nash stability
in the presence of envy":
https://royalsocietypublishing.org/doi/pdf/10.1098/rsos.200411
<https://royalsocietypublishing.org/doi/pdf/10.1098/rsos.200411>
Mit technischen Simulationen wird noch nicht die physiologische Basis der Hirnvorgänge
erreicht, aber das ist auch nicht hinsichtlich der physikalischen Basis der Computer der
Fall. Wie weit bestimmt die Hardware die Software und wie weit bestimmt die
Hirnphysiologie das PSM? Könnten sich nicht dennoch Roboter-PSM und Menschen-PSM sehr
ähnlich werden? Blieben gewachsene Strukturen grundsätzlich inniger verbunden als gebaute?
Unterscheiden sich Organismen und Mechanismen grundsätzlich oder nur graduell?
Es grüßt,
Ingo