Hallo Ingo,
Was kommt durch mathematische Formalisierung zum primitiven
Zusammenhangswissen hinzu?
Als Laie vermute ich, daß die Instrumente universalisiert und geschärft
werden. Man redet nicht mehr von Blitz und Donner, sondern von
Temperatur, Geschwindigkeit, Masse, Stromstärke, es werden
Naturkonstanten eingeführt und alle Zeichen sind im Gegensatz zu denen
der Umgangssprache genau definiert. Jetzt sind auch quantitative
Prognosen (etwa der Temperatur) möglich.
Ich bestreite nicht, daß das ein enormer zivilisatorischer Fortschritt
ist. Die Dosis macht das Gift und bei einer Naturkatastrophe möchte man
nicht nur wissen, ob sie stattfindet, sondern je mehr man im Detail
prognostizieren kann, desto besser.
Von prinzipiell andersartiger Erkenntnis würde ich dennoch insofern
nicht sprechen wollen, als es bei der Rückbindung der Formeln an die
Erfahrung bleiben muss, wenn sie nicht nur Verhältnisse zwischen Zeichen
festlegen sollen.
Statt "auf Blitz folgt Donner" heißt es dann im nächsten Schritt "auf
einen Blitz der Lichtstärke soundso folgt ein Donner der Lautstärke
soundso" und im übernächsten geht es dann um quantitative Zusammenhänge
zwischen variablen Grössen. Man kann durch die Durchforstung grosser
Datenmengen mit Computern sicher einem bloss zufälligen Zusammentreffen
von Umständen leichter auf die Spur kommen. Letztlich geht es aber nach
wie vor darum, solche Korrelationen möglichst zuverlässig festzustellen
und die Feststellungen bleiben auf dem Prüfstand der Erfahrung. Dem
"endlich verstehen wir!" der Renaissanceforscher (das sich ja bei jeder
wissenschaftlich-technischen Revolution wiederholt) würde ich also
entgegenhalten: nein, ihr könnt "nur" (aber immerhin!) genauer hinsehen
und genauere Prognosen machen.
Claus
Am 02.01.2020 um 16:44 schrieb Ingo Tessmann:
Am 29.12.2019 um 18:35 schrieb Claus Zimmermann
<mail(a)clauszimmermann.de <mailto:mail@clauszimmermann.de>>:
Ich hoffe, den Kausalitätsbegriff damit nicht komplett undurchsichtig
gemacht zu haben. Im Grunde kann man es reduzieren auf "wenn der Blitz
einschlägt, macht es aua". Das ist alles, was wir wissen.
Wissenschaftlicher Fortschritt besteht nur in einem Zuwachs an
Präzision, aber nicht darin, zu andersartigen Erkenntnissen zu kommen.
Hi Claus,
Wissenschaft ist hochstilisierte Lebenspraxis, darüber sind wir uns wohl
einig. Aber der Zuwachs an Präzision durch Technik und Mathematik
scheint mir gleichwohl zu andersartiger Erkenntnis zu führen. Denn
quantitative Genauigkeit wohnt bereits unseren Sinnen inne, wird in den
Sprachspielen der Philosophen (die natürlich nicht nur Spielerei sind)
aber einfach übergangen. Ist das Kausalitätsprinzip erst einmal
mathematisiert, wird es belanglos wie ich das Wort `weil’ verwende oder
verstehe.
Die Umgangssprache ist doch unseren Lebenszusammenhängen hier auf der
Erdoberfläche erwachsen. Wie soll ich mit ihr darüber hinaus gehende
Erkenntnisse erlangen können? Die Physik des 20. Jahrhunderts wird durch
Mathematik und Technik bestimmt, nicht um das Gerede darüber. Das dient
nur den Interpretationen und zum Erzählen von Geschichten. Was zählt ist
der Formalismus. Ich halte mathematisiertes Wissen für andersartig als
umgangssprachlich formulierte Gewohnheiten. Du offenbar nicht.
Denk nur einmal an die Bedeutung von Schwell- und Grenzwerten oder an
den Genauigkeitsschub, den die Atomuhren gebracht haben. In den
Navigationssatelliten werden die Zeiten momentan auf 14 Stellen genau
ermittelt. Damit aber auf der Erde Millimetergenau lokalisiert werden
kann, sind in den Uhren 18 Stellen erforderlich. Mit Atomuhren ist das
nicht mehr zu machen, es müssen Atomkernuhren entwickelt werden. Schon
in einigen Jahren dürften die ersten Thorium-Uhren stabil funktionieren
- und aus dem All wird Deine Augenfarbe ermittelbar …
Es grüßt,
Ingo