Am 26.01.2021 um 20:16 schrieb Joseph Hipp via Philweb
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[Philweb]
Am 26.01.21 um 16:48 schrieb Ingo Tessmann:
Habermas dagegen fußt auf seiner empirisch
belegten Universalpragmatik, die ja in einem Satz zusammengefasst werden kann: Wenn immer
Menschen miteinander kommunizieren, geht es ihnen darum s i c h mit j e m a n d e m
über e t w a s zu v e r s t ä n d i g e n.
Karl hat schon gemerkt, dass ich manchmal einiges ganz streng unter die Lupe
nehme und Ockham-Fan bin.
Bei so einem Satz gehe ich folgendermaßen (hier subjektiv, d.h. nicht tiefgehend alles
berücksichtigend) vor:
Hi JS,
Deinen Subjektivismus erspare ich mir. Da Du von Luhmann und Habermas geschrieben hattest,
nahm ich an, Du kenntest beide Autoren und hättest zumindest ihr jeweiliges Hauptwerk
gelesen. Habermas hatte seine Universalpragmatik vornehmlich in den 1970ern entwickelt und
mit in seiner "Theorie kommunikativen Handelns“ vorgelegt. Die erschien bereits 1981
und gilt heute als Klassiker. Ich empfehle also ersteinmal die Lektüre, damit Du Kontext
und Explikationen verstehst.
Im Kontext unseres Betreffs möchte ich Dich mit den Aristotelikern vergleichen, die nicht
verstanden, wie Galilei behaupten konnte, dass alle Körper im Vakuum gleich schnell
fielen. Es sei doch offensichtlich, dass eine Feder langsamer als ein Stein zu Boden
falle. Galilei nahm an: Beschleunigung = const. Aristoteles dagegen: Bewegung = Antrieb /
Widerstand. Ohne Widerstand im Vakuum, wird die Bewegung unendlich, was offensichtlicher
Unsinn ist.
Newton schlichtete den Streit, indem er definierte: Kraft = Masse x Beschleunigung. Stimmt
man nun durch Lesen der Texte der drei die Definitionen aufeinander ab und
operationalisiert sie, wird klar, dass mit der richtigen Wahl des jeweiligen Kraftgesetzes
sowohl Aristoteles als auch Galilei richtig lagen, hinsichtlich der Rechnung als auch des
Experiments.
In obigem Satz Habermasens geht es wie bei Galilei um eine Idealsituation, unter der
menschliche Kommunikation an vier Bedingungen geknüpft wird. Reale Kommunikation kommt der
Idealsituation natürlich nur mehr oder minder nahe, ebenso wie das Vakuum nur angenähert
werden kann. D.h. viele Menschen reden bloß um ihrer selbst willen (wie Du gerne, wie mir
scheint), anderen geht es vornehmlich um das Zusammensein oder um die Sache (wie mir
zumeist) und manche suchen lediglich Einverständnis. Damals hatten Habermas und
Mitarbeiter viele Tausend Gesprächsmitschnitte und -protokolle auszuwerten, um die
jeweilige Annäherung an das Ideal abzuschätzen. Heute kann das milliardenfach
algorithmisch im Internet gemacht werden.
Vom Klassiker Aristoteles sind wir zum Modernen Habermas gelangt. Die Postmoderne ist
nicht der Rede wert, aber wie sähe eine Neoklassik aus? Aristoteles hielt sich an den
Alltag, Galilei und Habermas ans Ideal. Wer wäre der Newton, der Aristoteles und Habermas
in Einklang zu bringen vermöchte? War das womöglich bereits Paul Lorenzen gelungen?
Es grüßt,
IT