Am 17.04.20 um 17:41 schrieb Ingo Tessmann:
Hi Karl,
schön, dass Du uns erhalten geblieben bist und wieder philosophieren kannst! Beim
Klimawandel ist es die Lufttemperatur in Bodennähe, bei der Covid-19-Pandemie die
Reproduktionszahl, die momentan nahe um 1 schwankt. Beide Zahlenwerte sind wesentlich
menschengemacht. Aber gibt es für R eine Zielvorgabe seitens der Bundesregierung? Die
momentane RKI-Schätzung für R liegt bei 0,7:
Danke für die Aufmunterung und ich versuche sie weiterzugeben vor allem
an jene in meinem Umfeld, die es um Längen härter als mich erwischt hat.
Aber es fehlen mir Worte dort, wo nach Todesfällen jetzt nichts als
Leere vorherrscht: wo man einfach nicht verstehen, nicht glauben kann,
was da in kürzester Zeit eintreten konnte; man braucht auch keine Worte,
denn sie könnten ohnehin nicht helfen, nichts bewirken. Es helfen nur
die Zeit, die Gewohnheiten und Notwendigkeiten des Alltags; auch stille
Nähe zu geliebten Menschen würde helfen, die derzeit jedoch nur
erschwert zu haben ist.
Wie gut aber die Ermunterung zur Philosophie! Sicher nicht zurück zu
jener, die wir in irgendwelchen Studiensemestern als bisweilen
ernüchternd wie ermüdende Exegesen philosophischer Ideenhistorie
„durchgepaukt“ und deshalb (zumindest mich betreffend) oft nicht im
Wesenskern verinnerlicht haben. Lebensnäher und daher hilfreicher die
Beschäftigung mit hermetisch umgrenzten Bereichen der Philosophie, wie
formale Logik, Sprachphilosophie etc.. Kurz gesagt, heute Philosophie zu
betreiben (ohne Klausuren, Studienarbeiten usf.) ist (jedenfalls für
mich) wesentlich befreiter und damit lehrreicher, gilt ebenso aber auch
für andere Fachgebiete, wie Mathematik und Physik. Damit einhergehend
für mich die Überzeugung, dass Philosophie ohne Einbezug
naturwissenschaftlicher Disziplinen nicht zu wirklichem Erkenntnisgewinn
führen kann, eben auch in Bezug auf Pythagoras‘ Annahme, dass in den
Zahlen der Schlüssel zum Bau der Welt liegt (wie wir die Rolle/Bedeutung
der Mathematik - als „Sprache der Natur“ - hier ja schon diskutiert haben).
Doch ja, es bleibt dabei natürlich die Frage: über was sollte/wollte man
philosophieren? Antworten darauf können wir hier in Philweb hoffentlich
noch einige Zeit erörtern und ggf. auch finden.
Bei meinen Rechnungen mit einem an die JHU-Daten
angepassten SIR-Modell rangiert sie zwischen 0,89 und 1,07.
Augenblicklich ist R wohl wieder etwas angestiegen und man hofft, dass
der Wert unter 1 bleibt.
Bliebe sie so, hätten wir ein Leben in der Krise noch
über Jahre bzw. bis zur Impfung zu meistern. Welche Auswirkungen hätte das auf unser aller
Zusammenleben und die Lebensphilosophie?
Davon gehe ich aus und dies basierend auf mir aktuell berichteten
Szenarien, wo in Familien eine Person schwer erkrankt und auch positiv
getestet wurde (eigentlich unnötig bei klarer Symptomatik, wie etwa
Atemnot, Geschmacksverlust), weitere Familienmitglieder mit eher schwach
ausgeprägten Symptomen definitiv auch befallen aber nicht getestet und
damit auch nicht in die Statistik aufgenommen wurden. Man kann sicher
annehmen, dass die tatsächliche Infizierungsrate mindestens dreifach
höher als angegeben liegt und damit die Wahrscheinlichkeit einer zweiten
Infektionswelle hoch ist. Das bedeutet, positiv für die Zukunft zu
sehen, aber auch eine höhere Durchseuchungsrate.
Wirst Du beispielsweise Dein Leben ändern? Sollten
die Staaten, Europa und die Welt jeweils ihre Politik und Wirtschaft, Technik und
Gesellschaft überdenken? Denn die nächste Vogelgrippe beispielsweise würde sehr viel
verheerender ausfallen.
Das sind fundamentale Fragen zur Situation, die mein Denken in gleicher
Art derzeit dominieren. Hier in der Region ist also wirklich ein
Infektions-Hotspot und ich beobachte Menschen in sehr unterschiedlichen
Reaktionen auf das Geschehen. Mehrheitlich hält man sich an die
Anordnung der Kontaktminimierung. Doch es gibt auch haarsträubende
„Verstöße“. Letztlich glaube ich, dass sich die Gesellschaft in ihrem
kulturellen und wirtschaftlichen Habitus auf die nunmehr entstandene
Situation einstellen wird und – wo immer möglich – in den alten Trott
bislang betriebener Lebensführung zurückfallen wird. Es steht zu
befürchten, dass da und dort eine „Aufholjagd“ erfolgen wird, um die in
der augenblicklichen Krisensituation verloren geglaubten Freiheiten und
Gewohnheiten möglichst ungeschmälert wieder zu etablieren. Das ist
leider keine optimistische Sichtweise. Ebenso pessimistisch führt mich
die Annahme einer global einsetzenden Schuldzuweisung zwischen Ländern
und Kontinenten zu der Einschätzung, dass Reparationsansprüche erhoben
werden, die sich zu ernsthaften politischen Krisen entwickeln könnten.
Sollten derartige „Horror-Szenarien“ vermieden werden können, würde ich
in einem global angelegten Forschungsprogramm bezüglich der
Möglichkeiten zur Früherkennung, Eindämmung und damit letztlich
Beherrschbarkeit von Viren-Pandemien große Vorteile sehen, die aus
derzeit gemachten Erfahrungen mit Covid-19 resultieren. Es steht, denke
ich, außer Zweifel, dass bei rechtzeitiger Reaktion auf die weltweit
konkret erfolgten Warnungen von Virenforschen, die derzeitige
Problematik mit Corona-Viren um Potenzen geringer ausgefallen wäre.
Sollte sich definitiv zeigen, dass Vertuschung im Spiel war, könnte das
ebenso kritische Konsequenzen haben. Ich für mein Teil glaube nicht an
die Geschichte mit Wildmärkten, da diese Art der Vermarktung infolge von
Ess-Gewohnheiten bzw. Vorlieben seit Jahrhunderten und über die gesamte
dortige Weltregion verbreitet ist und damit die Folgen eines
Viren-Übersprungs längst evident geworden sein müssten. Nun, zunächst
bleibt es subjektive Mutmaßung. Und Vermutungen zu diesem Thema werden
uns noch einige Zeit begleiten, dennoch aber wird mit jedem weiteren Tag
Wissen und Erfahrung über die Pandemie gesammelt, was uns ein Leben mit
dem Virus möglich sein lässt.
Bester Gruß an Dich und in die Runde!
Karl