Hi IT,
mag sein, daß das Thema schon totgeritten ist oder wir dabei sein, es totzureiten, und mag
auch sein, daß wir gar nicht weit entfernt voneinander sind (aber ganz ohne Streiten macht
es ja auch keinen Spaß), aber ich tendiere doch dazu, etwas anders zu akzentuieren, um in
der Verneinung des "Determinismus" dann vermutlich doch etwas weiter zu gehen.
Denn sobald man von erfolgreichem "Lernen" spricht, davon, daß etwas
"gelingt", ist man ja tendenziell schon wieder bei dem "Einen, das
nottut", bei der einen richtigen und "vernünftigen" Lösung, auf die alle
kommen MÜSSEN. Ich sage hingegen, die kindliche Sprachvariation ist insofern nicht nur
"zufällig" und "spielerisch", sondern (ok, etwas überpointiert
vielleicht) "Protest", weil sie doch der sprachlichen Umwelt sagen und zeigen
will: es geht auch anders, ich muß nicht eure blöden Orthogrammatik-Regeln beherrschen,
ich kann mit eurem Material ganz anders umgehen, und es "funktioniert" (in
Grenzen) eben trotzdem. Es geht ja nicht nur um das Konstatieren der Möglichkeit von
Kontingenz (als philosophische "Denkmöglichkeit"), sondern es geht darum, die
Kontingenzräume aktiv auszunutzen und auszuweiten, es geht darum, sie sich als MEINE
egopraktisch anzueignen. Das hat mit den gängigen Praxen und Praxeologien und Regeln und
Normen der anderen erstmal nichts zu tun. (Und ich weise auf Freuds Deutung des
Kleinkinds als "polymorph pervers" hin: was ja heißen sollte, daß es in der
menschlichen Frühphase auch im Sexuellen eine Menge von später nicht genutzten - weil
gesellschaftlich-moralisch geächteten - Möglichkeiten/Anlagen/Potentiale gegeben hätte,
die dann in der "Heteronormativität" und der "Genitalfixierung"
verschwinden, genau wie einem eben die Kindersprache spätestens in der Schule ausgetrieben
wird.)
Die Literatur (und zwar nicht nur in "aleatorischen Romanen", von denen ich gar
nicht wüßte, was das ist) stellt insofern eher die NORMAL-Form da, denn natürlich geht es
auch da um "Verständigung", aber eben nicht auf solch sklavisch-imitatorisch
exakt nachvollziehende Weise wie in der Wissenschaft. Wissenschaftliches
"Verstehen" ist gerade eine alltagsfremde Extremform sehr rigider
Verstehensnachvollzüge (daher ist es dort meist so leicht, "Fehler" zu entdecken
und nachzuweisen, deswegen kann man das alles so schön schulisch "abfragen" und
"abprüfen"), nur in der ("Normal"-)Wissenschaft ist alles so schön
"paradigmatisch", quasi automatisch selbstreplizierbar, ergänzbar, immer
problemlos anschlußfähig. Das mag man für notwendig und eine wichtige Errungenschaft
halten, aber warum sollte man dieses reduzierte Schrumpfform von "Verstehen" zum
ultimativen Idealmodell von "gelingender" (?) menschlicher Kommunikation
überhaupt hochstilisieren? Alltags- und kunstorientierte literarische Kommunikation
hingegen hat es und macht es sich nämlich deutlich schwerer, sie rechnet ständig mit Ab-
und Ausweichungen, Mißverständnissen, mehr oder weniger produktiven Unklarheiten,
Unschärfen, Halbwahrheiten, Andeutungen, ironischen Distanzierungen usw. usw. Erst hier
wird deutlich, was Kommunikation, Gespräch, Denken, Menschsein wirklich heißt, weit weg
von diesem glatt durchlaufenden und steril-sauber-monoton vor sich hin schnurrenden
Räderwerk namens Wissenschaft.
Das "exakte Verstehen", das Wissenschaft erfordert und ermöglicht, ist eine
radikale Ausnahme; als solche wertvoll und sicher nicht leichtfertig aufzugeben. Aber es
gibt eine (große, weite, schöne, interessante(re)) Welt außerhalb ihrer Grenzen.
JL
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Dienstag, 23. Juli 2024 20:02
An: philweb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
Hi JL,
ich erinnere an meine These, dass Veranlagungen sich nicht deterministisch, sondern in
mehr oder weniger großen Möglichkeitsräumen verwirklichten. So ist es bei allen Lebewesen.
Schon der erste Atemzug, der Menschen stoffwechselnd an die Biosphäre koppelt, kann
misslingen. Gelingt er, beginnt das nachahmende Einfügen in die Umgebung. Das Sprechen und
Verneinen kommt später, zunächst geht es mimisch, gestisch und schreiend zu, aber auch
physische Verweigerungen kommen vor. Auf das Liegen folgt das Krabbeln sowie Herumlaufen
und Hinfallen. Alle Lebensäußerungen sind zufallsmoduliert, fluktuieren, so auch das
Sprechen, vor allem in der Anfangsphase (und im Alter wieder). Die lustige Kindersprache
ist kein Ausdruck des Protestes, vielmehr spielerische Zufallsvariation. Die sogenannte
Trotzphase aber kann wohl als ein früher Protest in Verbindung mit beginnender
Selbstbestimmung angesehen werden. Und natürlich auch das nachahmend gelernte NEIN! In der
Pubertät dann wird Protest und Verweigerung zum Programm.
Habermasens herrschaftsfreier Diskurs als bloßes Ideal verstanden, nimmt ihm die Schärfe;
denn Ideale sind ja nur annäherbar, sowohl technisch wie politisch. Im Gegensatz zu
Habermas ignoriert Lorenzen nicht Mathematik und Technik neben Sprache und Politik. Sollte
Sprache Politik nicht ebenso strukturieren wie Mathematik Technik? Dabei liegen Technik
und Politik hinsichtlich ihrer Funktionstüchtigkeit zwischen Naturwissenschaft und Kunst.
Du scheinst Dich in Deinem Philosophieren mehr an der Kunst denn an der Wissenschaft zu
orientieren. In aleatorischen Romanen kommt es auf Verständigung nicht an, im Alltag aber
schon und mehr noch in den Wissenschaften, bis hin zum exakten Verstehen in der
Mathematik.
Aleatorische Romane müssen weder der Grammatik noch dem bekannten Wortschatz folgen, aber
kommt Interessantes oder Verblüffendes dabei heraus? Du siehst die Alltagspraxen keinen
Regeln oder Normen folgen, nimmst aber wohl nicht an, dass es zufällig in ihnen zugeht.
Ich dagegen sehe die Alltagspraxen der Natur und Technik erwachsen und folglich auch unter
Menschen Regeln und Normen walten, von denen bereits viele statistisch aus dem
Zusammenleben hinreichend großen Menschengruppen erschlossen werden können. Allen
Regelmäßigkeiten überlagert aber sind die Fluktuationen, in der Natur wie unter Menschen.
Kann es sein, dass wir uns nur im Ausmaß der Fluktuationen unter Menschen unterscheiden,
aber nicht grundsätzlich?
IT
Am 23.07.2024 um 13:58 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Hi IT,
du: "Du scheinst den synthetischen Ansatz des meth. Konstr. grundsätzlich analytisch
missverstanden zu haben."
Dieser Vorwurf trifft mich nicht, da ich mir ja noch gar nicht die Mühe gemacht habe, den
"meth. Konstr.", insbes. den von Lorenzen, irgendwie überhaupt zu
"verstehen". Ich kenne ihn nur vom Hörensagen und von den paar Zitaten, die du
hier eingebracht hast, aber daß ich eine ausreichende Ahnung hätte, um ihn schon
ordentlich "mißverstehen" zu können, reicht das ja noch lange nicht aus.
Epistemologisch-wissenschaftstheoretisch würde ich mich, wenn überhaupt, bestenfalls auf
einen vagen Old-School-Weberianismus festlegen lassen, zu mehr reicht es bei mir sicher
nicht...
Und das genügt dann sicher auch nicht, um die Zweifel an der von dir hier umrissenen
Position besser zu argumentieren als nur durch folgenden skeptischen Einwurf: mir scheint
diese These des (erkenntnisgenetischen und daher auch erkenntnistheoretischen) Primats des
Imperativs vor dem Indikativ sehr gewagt. Ich glaube, daß man dadurch das Humanum i.S. der
doch von Anfang an wesentlichen Selbstreflexion und Selbstdistanz ("Exzentrizität bei
Plessener) nicht mehr von allem Tierischem zu unterscheiden in der Lage ist (daher kommen
natürlich bei dir auch gleich die "Affen" vor). Wer meint, daß Menschen nur
durch Imperative lernen, zeichnet ein bloßes Dompteur- und Dressur-Bild vom Menschen. Mir
scheint da viel wesentlicher und bezeichnender von Anbeginn an (also schon beim
Spracherwerb) die menschliche Fähigkeit der Negation, der Verweigerung, der (freien)
Veränderung, der Variation. Natürlich läßt man sich vorsagen und ahmt dann nach, aber doch
sofort immer mit bezeichnendem Eigenwillen (daher diese angeblich so "lustigen"
Kindersprachen und Kinderworte: in Wirklichkeit sind das Akte des frühkindlichen Protests
gegen die Welt, wie sie uns aufgezwungen wird). Poesie und Literatur greifen das dann auf
und zelebrieren das GERADE-NICHT-Nachahmungsprinzip. Der "meth.Konstr."
schmuggelt hingegen, so will mir - wie gesagt - als geistig Außenstehender scheinen, das
Normative schon immer in die "Praxis" hinein (um es dann wie der Zauberer das
Kaninchen aus dem Hut zaubern zu können) und übersieht, daß Praxen eben immer individuell,
situativ, kontingent, variabel, ephemer, inkonstant, irregulär manchmal bis zur
vollständigen Unvorhersehbarkeit sind. Damit wird dem Menschen gerade die vielleicht
einzige Möglichkeit genommen, in dieser Welt mehr zu sein als ein immer nur im Getriebe
mitlaufendes Rädchen: seine Möglichkeit, zu allem auch "Nein" sagen zu können.
(Und genau deswegen braucht es ja dann "Normen" und den zwingenden
Unterschied zwischen ihrer "Genese" und ihrer "Geltung": sie sind
eben
nicht vorher schon da, sie liegen nicht "in den Praxen" verborgen,
sondern sie müssen immer erst von woanders her "erfunden" und
aufgerichtet (und verteidigt und sanktioniert) werden, weil man sich
ihnen eben immer auch widersetzen kann. Weil sie "unnatürlich" sind.
Weil sie uns "überfordern". Weil sie eigentlich niemand mag, wenn er
ehrlich ist. Der "synthetische" Ansatz wirft hingegen ein allzu naives
Friede-Freude-Eierkuchen-Licht auf die Welt: "wir haben uns alle
lieb", oder á la Habermas: "wir finden durch gewalt- und machtfreier
Diskussion eine gerechte Lösung für alle Beteiligten, zu der alle
zustimmen müssen(!)". Schön wär´s, aber: niemand muß müssen. Nie,
nirgendwo.) JL
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