Am 23.10.2021 um 12:42 schrieb Rat Frag via Philweb:
[Philweb]
Hallo,
heute möchte ich ganz kurz einen Gedanken zum Thema "Lügen" ausformulieren.
Die Bewertung der Lüge durch die Moralphilosophen ist eigentlich
erstaunlich klar, wenn man die sonstige Uneinigkeit dieses Standes
bedenkt. Es überrascht aber weniger, sobald man sich ins Gedächtnis
gerufen hat, dass Philosophen eine Gruppe von Menschen sind, die sich
subjektiv der Wahrheit verschieben haben. Das Konzept der Lüge ist
ihnen daher natürlich nicht geheuer.
Es ist jedenfalls klar, dass die Lüge mit ganz unterschiedlichen
Begründungen abgelehnt wird, aber darin sind sich die verschiedenen
Denker einig. Einige argumentieren, die Sprache diene zur Übertragung
von Informationen und Lüge sei eben ein Missbrauch der Sprache.
Die andere folgern aus einer Fiktion, in der alle jederzeit lügen,
dass die Lüge ein Zustand ist, der sich selbst aufhebt.
Könnte man dazu nicht nach Nietzsche sagen: Wer einen Grund braucht,
nicht zu lügen, dem kann man nicht so ganz trauen. Ein ehrlicher Mensch
braucht dafür keinen Grund. Es widerstrebt ihm einfach.
Theoretisch droht sonst der unendliche Regress des Grundes für den Grund
etc., praktisch denke man doch einfach an seinen Bekanntenkreis. Da ist
dann vielleicht jemand, dessen "blaue Augen nicht lügen können".
Wer sich nicht aufgrund theoretischer Überlegungen so verhält, sondern
weil es ihm gegen den Strich geht, der wird sich vielleicht unter
bestimmten Umständen wenn auch ungern darüber hinwegsetzen, weil sonst
etwas eintreten könnte, das ihm noch mehr gegen den Strich ginge.
Kant würde vielleicht sagen, daß Handeln aus Neigung ein Kinderspiel und
nicht verdienstvoll ist. Es ist natürlich leichter, mit dem Wind zu
segeln. Andererseits wäre es albern, sich alles extra schwer zu machen,
um sich besonders auszeichnen zu können.
Richtig erscheint mir, niemanden dafür zu verurteilen, wie er auf die
Welt kommt (falls man nicht an Wiedergeburt glaubt), sondern nur dafür,
was er daraus macht.
Einen Päderasten, der seiner Neigung nicht nachgibt, weil er keinen
Schaden anrichten will, wofür er keinen weiteren Grund braucht, würde
ich dafür achten.
Will man den Sachverhalt jedoch aus einer eher "naturalistischen"
Sichtweise betrachten, drängt sich einem ein völlig anderer Gedanken
auf:
Die Lüge ist kein Missbrauch oder eine zu kurzfristige Überlegung. Wir
sagen vielmehr eher die Wahrheit, um besser lügen zu können.
Betrachten wir eine Quelle, sei es ein einzelner Mensch oder eine
ganze Organisation, die andauernd und nur lügt. Ihre Äußerungen hätten
keinerlei erkennbaren Bezug zur Realität. Man würde diese Quelle
irgendwann vollständig ignorieren, sie als Informationsrauschen abtun
und sie höchstens für Interessant halten, um etwas über die Absicht
der Lügner zu erfahren.
Permanentes Lügen führt also dazu, dass der Lügner selbst nicht mehr
ernst genommen wird.
Als Kontrast dazu sehen wir uns eine Quelle an, die niemals lügt.
Natürlich wird auch diese Quelle Unwahrheiten verbreiten, aber nur aus
Irrtum, nach besten Wissen und Gewissen.
Diese Quelle hätte sowohl psychologisch als auch rational, man denke
an Bedingte Wahrscheinlichkeiten, eine hohe Vertrauenswürdigkeit.
Der Idealzustand für einen Lügner ist also nicht das ununterbrochene
Lügen, das seinen Ruf runiert, sondern eigentlich der Aufbau einer
hohen Vertrauenswürdigkeit. Erst in dieser Situation gewinnen seine
Lügen einen maximalen instrumentellen Wert.
Langfristig gesehen wird ein Lügner deshalb im Gegenteil versuchen,
immer möglichst wahre oder zumindest glaubwürdige Berichte zu geben,
denn nur auf diese Weg ist sichergestellt, dass er effektiv lügen
kann.
Es ist eine Sache von Wahrscheinlichkeiten.
Das ist m.E. um zu viele Ecken gedacht.
Man kann m.E. sagen, daß die Lüge gleichzeitig mit der Wahrheit in die
Welt kommt. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. (Allerdings ist
die Lüge m.E. nicht ursprünglicher, wie der Satz "Wahrheit ist die
Erfindung eines Lügners" behauptet.)
Warum handelt es sich um siamesische Zwillinge?
Wer gelernt hat, einem anderen irgendwie ein Bild irgendeines
Sachverhalts zu vermitteln, kann ihm auch ein falsches Bild geben. Wenn
er dazu nicht in der Lage ist, kann er weder ein wahres, noch ein
falsches Bild zeichnen.
Manche Tiere ohne hoch entwickelte Sprache können wohl schon falsche
Fährten legen.
Es gibt noch eine andere Strategie im Umgang mit Lüge und Wahrheit, die
gerade ziemlich in Mode ist. Man lügt, wird ertappt und wiederholt die
Lüge mit fester Stimme. Dann teilt sich das Publikum in zwei Lager. Das
eine ist angeekelt. Das andere ist fasziniert und hängt an den Lippen
des Meisters.
Demnächst wird es ein neues hoch soziales Medium namens Truth Social geben.
Was denkt ihr?
Mit freundlichen Gruß
der Ratfrager.
ebenso
Claus
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