Am 19.06.2020 um 20:23 schrieb Claus Zimmermann
<mail(a)clauszimmermann.de>de>:
Man stellt sich beim Lesen etwas vor. Dabei wird das Gelesene mit Details ergänzt und
ausgemalt, die der eigenen Erfahrung und Erinnerung entstammen, aber nicht wesentlich
sind. So ist es vielleicht nicht wesentlich, ob die Figur Sommersprossen hat (vielleicht
schon, dann wird es der Autor erwähnt haben), aber wir stellen sie uns so vor, weil sie
uns an jemanden mit Sommersprossen erinnert. Ebenso hat auch der Autor nicht nur Worte
aneinandergereiht. So ansprechen, daß unsere Vorstellung angeregt wird, kann er uns nur
von Mensch zu Mensch, indem er innere Bilder und Vorgänge, die ihm etwas bedeuten, weil
sie mit seinem Leben zu tun haben, möglichst plastisch wiedergibt, indem er alles
unwesentliche weglässt.
Das ist meiner Meinung nach eine Spezialität der Literatur. Bei einem Bild, Film oder
Musikstück muß der Betrachter oder Hörer nichts hinzufügen, sondern nur wahrnehmen und
mitgehen.
Hi Claus,
eine Literaturverfilmung schränkt die vielen Vorstellungen der Lesenden natürlich ein,
aber es bleibt immer noch viel Spielraum für Assoziationen, Abschweifungen und Vergleiche.
Ebenso ist es bei Malerei und Musik, man kann einfach mitgehend schauen und hören, aber
auch abschweifen und assoziieren, mitfühlen und analysieren. Ein Romantext könnte auch mit
einer Partitur verglichen und das Vorlesen des Textes mit der Aufführung der Partitur. Ich
sehe den Unterschied der anderen Künste zur Literatur nur graduell, nicht grundsätzlich;
schließlich ist ja das Sprechen aus dem Schreien, den Warn- und Hinweisrufen wie dem
Singsang hervorgegangen und die Schrift war ursprünglich Bildsprache.
Groschenromane könnte man so fabrizieren. Man weiß
z.B.: Figur rutscht auf Bananenschale aus, Leser ist mehrheitlich erfreut. Aber die
umgestaltete Darstellung von Erfahrungen, die einen bewegt haben und die deshalb auch den
Leser, der ja nicht von einem anderen Stern kommt, ansprechen können, ist etwas anderes.
Auch hier sehe ich nur einen graduellen, keinen grundsätzlichen Unterschied in der
Bewegtheit. Schlichte Gemüter und einfältige Geister fühlen und denken natürlich anders
als die Feinsinnigen und Intelligenten, aber das sehe ich als eine Art von Verfeinerung,
bei den Künsten ähnlich wie bei den Wissenschaften, die allesamt Verfeinerungen des
Alltags sind.
Um ein Künstler zu werden, müsste er menschliche oder
vergleichbare Erfahrung kennen. Die besteht nicht darin, wie eine Maschine nach Regeln zu
handeln. Die Regeln kommen dann später, indem man etwa festlegt, daß man einen Gegenstand,
der so aussieht, wie diese Gegenstände hier, als grün bezeichnet. Man appelliert dann an
ein Verständnis, das nicht Regeln folgt, aber natürlich alles andere als willkürlich ist.
Man kann sich ja nicht aussuchen, welche Farbe etwas hat, das man sieht. Wie sollte man
das also dem Computer in Form einer wenn-dann-Regel einprogrammieren? Natürlich kann man
ihn wie auch einen Blinden mit einem Sensor ausstatten. Aber das heißt nicht, daß er
sieht. Der Unterschied besteht darin, daß der Sensor den Computer oder Roboter unter einer
bestimmten Voraussetzung zu einer bestimmten Aktion veranlasst. Eine Messung findet statt,
die Aktion wird ergebnisabhängig ausgelöst oder nicht. Aber was ist die Voraussetzung für
eine Farbunterscheidung? Da kann man nur sagen "das siehst du doch" und wenn das
nicht verstanden wird, ist man mit seinem Latein am Ende.
So wie wir als Kinder die Verwendung der Farbwörter gelernt haben, lassen sich auch die
neuronalen Netze in den Robotern trainieren, die man bereits wie Kinder in Familien
mitspielen lassen kann. Ich sehe wiederum nur einen graduellen, keinen grundsätzlichen
Unterschied.
Der Computer wird auch das Geheimnis des Witzes nicht
dadurch enträtseln, daß er anhand möglichst vieler Fälle untersucht, worüber Menschen
lachen, auch wenn er dann mit zunehmender Trefferquote Humor simulieren könnte.
Worüber Menschen lachen, ist schon bei ihnen sehr unterschiedlich, lachen viele doch
einfach nur mit oder sind bloß empört, je nach Niveau des Witzes. Witzig sind häufig ja
ungewöhnliche Wendungen oder Verbindungen, so dass sich die Verblüffung über das
Unerwartete in Lachen äußert. Dieses Erwartungs/Erfahrungs-Wechselspiel müssen auch Kinder
erst lernen, warum sollten es Roboter nicht auch lernen können.
Zum Schluss ein Vierzeiler von Günter Grass, über den ich jedesmal erneut lachen kann,
aber manche Menschen überhaupt nicht:
Tour de France
Als die Spitzengruppe
von einem Zitronenfalter
überholt wurde,
gaben viele Radfahrer das Rennen auf.
Lachend grüßt
Ingo