Sehr geehrte Leserinnen und Leser (einschließlich diverse Personen),
Liebe Liste,
wieder belästige ich euch mit meinen unausgegorenen Gedanken.
Als Einleitung:
Die Philosophie hat -- meiner Ansicht nach -- die Aufgabe Gedanken
abstrakt und völlig frei zu entwickeln. Dabei kann es natürlich
vorkommen, dass sich Gedankengänge aufdrängen, die man in anderen
Kontexten von Vornherein zu recht ablehnen würde. Mein folgender Text
ist deshalb als eine Art Gedankenexperiment zu verstehen. Niemand soll
sich in seinen religiösen Gefühlen beeinträchtigt fühlen.
Zudem der Beitrag ja eine aktive Beschäftigung mit den Lehren der
Religionen darstellt.
Die meisten großen, monotheistischen Religionen erzählen uns heute
ungefähr folgende Story:
Der Mensch lebt auf der Erde, um sich hier zu beweisen. Führt er ein
moralisch gutes Leben, worin auch immer das bestehen soll,
qualifiziert er sich für den Himmel, also eine ewige Existenz der
Glückseligkeit. Handelt der Mensch dabei böse, so wird er dafür mit
ewigen Höllenqualen bestraft.
Es gibt natürlich Details, die die einzelnen Religionen stark
unterscheiden, aber die spielen für diese Erörterung zunächst einmal
keine Rolle.
(Wichtig ist nur vielleicht festzustellen, dass Glaubenssysteme,
welche auf der Existenz von eine Art "Karma" und/oder einer
Seelenwanderung aufbauen wie etwa der Buddhismus nicht unter diese
Story fallen. Karma wird anders gedacht als Himmel und Hölle.)
Fiktivteil:
Jetzt betrachten wir einmal zwei fiktive Geschichten.
a. Die Person N. N. hat bisher ein relativ normales Leben geführt, ist
aufgewachsen und das Übliche. Es gibt also kein schweres Trauma oder
vergleichbares, welches sein Leben auf Abwäge hätte führen können.
Nun beschließt N. N. eines Tages, sein Leben dem Böse zu weihen. Er
will andere Menschen ausplündern, mies behandeln und sich allgemein
schlecht verhalten. Sei es aus Rebellion gegen Gott, den er dazu
zwingen will sich ihn zu offenbaren oder weil er denkt, dass diese
Lebensweise irgendwie "authentischer" für ihn ist.
Bevor er diese Zukunftspläne jedoch in die Tat umsetzen kann, wird er
in einen tragischen Unfall verwickelt und ist für den Rest seines
Lebens auf Hilfe durch andere Menschen angewiesen, ja auch geistig
nicht mehr dazu in der Lage (hirnorganische Schäden!), jemanden etwas
zu tun.
Aufgrund dessen "sündigt" N. N. niemals und führt aus Sicht der
Gesellschaft ein absolut gutes Leben.
Die Gesellschaft kann nichts für diese Fehleinschätzung, da sie nur N.
N.s äußeren Zustand beurteilen kann.
Die Frage lautet, qualifiziert das N. N. für den Himmel? Oder nur die
Person, die N. N. durch die hirnorganischen Schäden wurde, nicht
jedoch die Person, die die bösen Vorsätze gefasst hat? Falls man sich
auf diesen Standpunkt stellt, hatte N. N. dann einfach "Glück", seine
böse Vorsätze nicht mehr Wirklichkeit werde zu lassen?
Was wäre, wenn N. N. wirklich als nie überführter Mörder gelebt hätte
und am Ende seines Lebens an Demenz erkrankt und dann ebenfalls in
einen Zustand kindlicher Unschuld rutscht?
b. Die Person N. N. ist ein gewalttätiger, aggressiver, von
allgemeinen Standpunkt her einfach furchtbarer Mensch. Irgendwann
kommt er ins Gefängnis und ein kluger Gefängnisarzt erkennt, dass er
an einer Krankheit leidet, die ihn neuropsychologisch dazu treibt
grausam zu sein und seinen Mitmenschen zu schaden. Die Krankheit wird
erfolgreich therapiert und N. N. lebt ein "normales" Leben, nachdem er
aus den Gefängnis entlassen wird, lebt er als gewöhnlicher Bürger ohne
je wieder straffällig zu werden.
Die Gesellschaft könnte unter diesen Voraussetzungen N. N. aus guten
Gründen verzeihen. Schließlich hat er seine Strafe abgesessen und ist
danach zur "Normalität" zurückgekehrt. Seine Opfer werden damit wohl
eher Probleme haben, besonders wenn sie Angehörige verloren oder
Spätfolgen zu dulden haben.
Doch was ist mit Himmel und Hölle? Kann es wirklich an der zufälligen
Anwesenheit des Gefängnisarztes gelegen haben, dass N. N. am Ende in
den Himmel kommt?
Natürlich verstehen wir die göttliche Perspektive auf die Welt nicht.
Jedenfalls nicht vollständig.
Offenbar kann der Protagonist unserer Geschichte weder etwas für seine
Hirnstruktur, noch für begleitende Umstände wie einen Unfall oder
einen klugen Gefängnisarzt. Wenn diese Umstände also relevant für die
Reise der Seele in Himmel oder Hölle sein sollten, dann müsste man die
Theorie des "moral lucks" von Nagel heranziehen.
Diese fiktiven Geschichten stellen diesen abstrakten Kern nur (mehr
oder weniger) klar heraus. Es ist aber nun zweifellos so, dass man
viele Handlungen eines Menschen sehr wohl auf äußere Umstände
zurückführen kann. Angefangen von genetischen Risiken, über die
Erziehungsphilosophie der Eltern bis hin zu zufälligen Kontakten, die
ein Mensch im Laufe seines Lebens gemacht hat.
In beiden Storys wird aber explizit Bezug genommen auf das Gehirn und
hier treffen wir wieder auf einen Frage.
Eine Frage die "Seele", "Schicksal" usw. berührt. Wenn jemand
"wesentlich" oder "an sich" ein guter oder schlechter Mensch sein
kann, aber aufgrund von organische Ursachen daran gehindert wird, dann
gibt das Verhalten in dieser Welt ja den "ethischen Wert" der Seele
des Menschen gar nicht unverfälscht wieder.
2. Formalteil:
Ich versuche mich hier mal ein bisschen in Logik und bin über jede
Korrektur dankbar.
P1: A ("Die Welt dient dazu, dass der Mensch sich Himmel oder Hölle verdient")
P2: B ("Nur das unveränderliche Wesen des Menschen, seine 'Seele',
verdient es für Himmel oder Hölle verurteilt zu werden")
P3: (A & B) -> C ("Wenn diese Welt dazu dient, dass der Mensch sich
Himmel oder Hölle verdient und nur sein unveränderliches Wesen sich
dies verdienen kann, dann folgt daraus logisch, dass das Verhalten des
Menschen das unveränderliche Wesen des Menschen widerspiegeln")
P4: D ("Es gibt neuropsychologische Umstände, die das 'Verhalten' des
Menschen verändern")
P5: E ("Der Mensch kann nichts für die neuropsychologischen Umstände,
in die er im Laufe seines Lebens gerät")
P6: (D & E) -> ¬C ("Wenn D und E beide der Fall sind, dann folgt
daraus, dass C falsch ist")
S1: ¬C | Wegen P4, P5 und P6 durch Modus Tolles (MT)
S2: ¬(A & B) | Wegen S1 und P3 durch MT
S3: ¬A v ¬B | Aus S2 durch Umformung.
S3 würde dann bedeuten: Entweder "Die Welt dient NICHT dazu, dass der
Mensch sich Himmel oder Hölle verdient" oder "NICHT nur das
unveränderliche Wesen des Menschen, seine 'Seele', verdient es für
Himmel oder Hölle verurteilt zu werden" oder beides stimmt nicht.
Keinesfalls geht jedoch beides zusammen.
Wenn man jetzt dieses Dilemma vermeiden möchte, wofür es aus Sicht der
obigen Story gute Gründe geben könnte, dann gibt muss man entweder
einen Logikfehler in obiger "Herleitung" zeigen (was ich ausdrücklich
nicht ausschließe) oder eine der mit Pn gekennzeichneten Prämissen
negieren.
Um letzteres ein bisschen einfacher zu machen, erlaube ich mich mir,
die Prämissen in verschiedene Kategorien einzuteilen:
P4 ist empirisch.
P2, P3 und P5 sind sind normativ, d. h. ethische Sätze
P1 ist eine religiöse These.
P3, P6 sind zugleich metaphysische Thesen, weil sie von immateriellen
Essenzen sprechen.
P1 oder P2 zu negieren sind ja genau das, was das Dilemma fordert,
ergo kein Vermeiden, sondern eine Lösung.
Die Prämisse P4 scheint mir ziemlich schwer angreifbar zu sein. Man
könnte zwar argumentieren, dass nicht die Hirnverletzung das Wesen des
Menschen gar nicht ändern, sondern der Stress und die Schmerzen und
der Schock das Individuum veranlassen, sich zu ändern. Aber wieso
sollten bei verschiedenen Individuen die selben Verletzungen zum
selben Resultat führen?
P3 scheint mir ebenfalls ziemlich gut dazustehen, sonst macht die
Beurteilung eines Menschen anhand seiner Handlungen und Intentionen
nur noch wenig sinn. Zumindest, wenn man ihn für eine ewige Strafe
oder Belohnung Vorsieht.
P5 kann man kaum negieren, sonst landet man bei einer Form der
Karma-Lehre, die den großen monotheistischen Religionen aber fremd
ist.
Vielleicht wäre P6 der geeignetste Kandidat, wenn man das Dilemma
vermeiden will?
Das würde bedeuten, dass das Verhalten des Menschen zwar durch
Umstände, für die er nichts kann, verändert wird, aber zugleich noch
sein unveränderliches Wesen widerspiegelt. Doch was wäre die
Konsequenz daraus? Ein Schicksalsglaube oder soll man sich neben den
neurolog. bedingten Verhalten einen metaphysischen Anteil denken, der
durch Hirnänderungen nicht betroffen ist?
Was meint die Liste? Handelt es sich um einen Denkunfall oder nicht?