Am 07.12.2021 um 08:06 schrieb Rat Frag via Philweb:
„Da aber die sittliche Vorschrift zugleich meine
Maxime ist (wie denn
die Vernunft gebietet, dass sie es sein soll), so werde ich
unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben und bin
sicher, dass diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch
sittliche Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht
entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu
sein.“ (Kant: Postulat der Vernunft 1781)
Exakt das ist ja auch die kantische Argumentationsfigur bezüglich
Willensfreiheit:
*Es ist eine notwendige Bedingung für sittliches Handeln, dass
Willensfreiheit existiere. Es existiert sittliches Handeln, das ist
hinreichend für Willensfreiheit*.
So habe ich es zumindest verstanden.
Hier wird also Gott zur notwendigen Bedingung der Sittlichkeit erklärt.
Aber genau das kann ein Atheist für gewöhnlich nicht akzeptieren, weil er
damit zugeben würde, dass er im Vergleich zum Gläubigen unmoralisch ist.
Hier möchte ich noch einmal – vornehmlich bezüglich Deines dem Thema
angepassten Betreffs „Wo nur noch geglaubt werden kann“ darauf eingehen:
Ich schrieb kurz dazu, dass Kant diesbezüglich schlicht keine Rücksicht
auf Atheisten genommen hat; dieses indem er sein oben zitiertes Postulat
als solches an Vernunft (des Menschen somit auch die ihm eigene) und an
eine quasi per se (in einer intelligiblen Welt) gegebenen
Sittenvorschrift bindet. So müssen/dürfen Atheisten bezüglich dieser
zweifach geknüpften Festlegung „ins Leere laufen“. Dass sie dennoch
nicht (im vermeintlichen Gegensatz zu Glaubenden) als grundsätzlich
unmoralisch Handelnde gelten können ergibt sich alleine schon daraus,
dass Atheisten selbstredend im gleichen Maß über Vernunft verfügen, wie
sie prinzipiell allen Menschen gegeben ist und damit (wie ich meine)
unabhängig von Religion sowie dem Glauben an einen Gott die
Notwendigkeit sittlichen Verhaltens erkennen und ggf. aus freien Stücken
danach handeln.
Damit sind wir sogleich bei der Willensfreiheit. Über diese und generell
zu Freiheit haben wir hier in Philweb oft und bisweilen ausführlich
diskutiert: Über die Thesen und diverse Aussagen namhafter Philosophen,
Psychologen, von Literaten, Dichtern bis hin zu Forschenden der
Neurowissenschaft unserer Zeit. In jeder dieser Annahmen oder
Behauptungen steckt ein Stück weit zutreffende Argumentation und dennoch
findet sich keine geschlossene, allgemein akzeptierte Erklärung; so
werden diesbezüglich weiterhin Mutmaßungen darüber angestellt, es wird
philosophiert und „schwadroniert“.
Das ist nach meinem Empfinden nicht verwunderlich, denn (wie ich hier
schon schrieb) kann es keine absolute Freiheit, damit eben auch nicht
jene des Willens geben, wie es auch Schopenhauer formuliert: /Der Mensch
kann zwar tun, was er will, er kann aber nicht wollen, was er will.//
/
Das liest sich auf Anhieb wie ein Paradox und womöglich gehst Du nicht
ohne Grund in Deinem letzten Beitrag explizit auf Schopenhauer ein:
/rf: „Schopenhauer, um ein anderes Beispiel zu nennen, wusste ("Glaubte
erkannt zu haben"), dass die Welt nichts anderes als Wille und
Vorstellung ist. Das heißt auch, in der Welt, wie er sie sah, gab es
keinen Platz für einen klassischen Gott, höchstens für ein höheres, aber
nicht vollkommenes Wesen. Letzte Realität war der Wille. Man erkennt das
Problem daran schon: Hier müssen wir Epikur oder Schopenhauer einfach
folgen. Doch warum sollten wir ihnen mehr glauben als irgendeinen
Vertreter der Religion?“/
Ich denke, man sollte Epikur oder Schopenhauer nicht glauben müssen,
sondern sich damit in gedanklicher Tiefe auseinandersetzen, wie er das
in folgend zitierter Textpassage anspricht:
/„Die Frage nach der Willensfreiheit ist wirklich ein Probierstein, an
welchem man die tief denkenden Geister von den oberflächlichen
unterscheiden kann, oder ein Grenzstein, wo beide aus einander gehn,
indem die ersteren sämmtlich das notwendige Erfolgen der Handlung, bei
gegebenem Charakter und Motiv, behaupten, die letzteren hingegen, mit
dem großen Haufen, der Willensfreiheit anhängen. Sodann giebt es noch
einen Mittelschlag, welcher, sich verlegen fühlend, hin und her lavirt,
sich und Andern den Zielpunkt verrückt, sich hinter Worte und Phrasen
flüchtet, oder die Frage so lange dreht und verdreht, bis man nicht mehr
weiß, worauf sie hinauslief. […]“ (Schopenhauer)/
Schopenhauer postuliert, dass alle Wahrnehmungen der Lebenswelt
Vorstellungen, damit letztlich objektivierte Erscheinungsformen eines
metaphysisch bedingten Willens sind, diesen er als das Kant’sche „Ding
an sich“ interpretiert; im Gegensatz zu diesem sieht er im Menschen
ebenso einen individuellen Willen am Werk und definiert diesen als
Erscheinungsform eben des metaphysischen Willens.
Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, ist es hilfreich, auf die
seinerzeit von mir zu diesem Thema angeführte Schopenhauer’sche
Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblen Charakter
einzugehen. Letzterer entspricht dabei dem metaphysisch bedingtem
Willen, also dem „Ding an sich“.
Die von Schopenhauer getroffene Behauptung, alles Geschehen folge einer
unbedingten Notwendigkeit (absolute Determiniertheit) spiegelt sich in
seiner Definition eines empirischen Charakters wider, wie er als dem
Menschen eingeboren verstanden ist.
Über Determiniertheit der Lebenswelt haben wir hier ebenso eingehend
diskutiert und ich habe diese als meine Überzeugung von einer
weitestgehend vorbestimmten Lebenswelt dargestellt. Diese
Determiniertheit sehe ich nicht vordergründig als das von einem Gott
zugeteilte Schicksal, sondern gemäß meiner Denkweise, dass immer das
zwingend Wahrscheinliche am Wahrscheinlichsten geschieht. Diese
Wahrscheinlichkeit lässt allerdings Spielraum, wenngleich einen sehr
minimalen, wie er sich als Zufall auch in Symmetriebrüchen zeigt.
So gilt (wohl nicht nur aus meiner Sicht): Zufall und Notwendigkeit
bestimmen die Geschicke der Welt; dabei kann dieser Zufall nur objektiv
sein, d.h. nicht aus bereits konkret Existierendem entstanden sein.
Schopenhauers Auffassung von der unbedingten Notwendigkeit bezieht sich
auf den empirischen Lebensbereich (Form der Erscheinung) und somit sieht
er für diesen realen Lebensbereich keine Freiheit und demnach, auf
diesen bezogen, eben keinen dem Menschen verfügbaren freien Willen.
Angelehnt an Kants „Ding an sich“ begründet Schopenhauer seine
Vorstellung vom Weltwillen als den ultimativ existierenden Weltgrund,
sprach jedoch Kant in diesem Zusammenhang das Vermögen ab, diesen
Weltwillen als das „Ding an sich“ erkannt zu haben bzw. diesen also
solches zu werten.
Unbeschadet dessen, nimmt Schopenhauer Bezug auf Kants Vorstellung einer
„Intelligiblen Welt“ und damit auf das hier zuletzt erwähnte
Sittengesetz, wonach der Mensch als „Noumenon“ dieses Gesetz mittels
Vernunft zu erkennen vermag und somit auch einer intelligiblen Welt (als
Sphäre von zeitloser Geltung) angehört.
Kant und ebenso Schopenhauer sehen diese Sphäre nicht als pur
abstrakten, metaphysischen Gegenstand ihrer Erkenntnis, sondern als eine
zusätzliche Art menschlicher (nicht körperlicher) Existenz und damit
gewinnt die Idee einer intelligiblen Welt entsprechende Relevanz mit
durchaus lebenspraktischen Folgen:
Die Art und Weise menschlichen Wollens, wo dieses der übersinnlichen
Sphäre der intelligiblen Welt (als einem „Reich der Zwecke“) entspringt,
prägt das Handeln des Menschen gemäß deren sittlicher Vorschrift. Dieses
Handeln erfolgt aus freien Stücken und nicht unbedingt nur aus dem
eingeborenen empirischen Charakter resultierend.
Damit besteht im Bereich des Intelligiblen eine transzendentale
Freiheit, die keiner Notwendigkeit zufolge einer Kausalität unterliegt.
Praktisch gesehen bedeutet dies, dass der Mensch trotz Schopenhauers
Auffassung von der Unfreiheit des menschlichen Willens (wegen der
strikten Determiniertheit der Lebenswelt) keinesfalls von “guten Taten”
abgehalten wird; diese können aus freien Stücken gemäß einer Ethik
erfolgen, die sich nach Schopenhauers Ansicht einzig auf das menschliche
Mitleid (sog. Mitleidsethik) gründet.
Das liest sich (auf Anhieb) auch nicht unbedingt eingängiger, als oben
zitierte Feststellung Schopenhauers: „ Der Mensch kann zwar tun, was er
will, er kann aber nicht wollen, was er will“
So kommt man unweigerlich noch einmal auf dieses Wollen resp. den
„Willen an sich“ zurück und in diesem Kontext könnte die Aussage eines
zeitgenössischen Biologen und Neurowissenschaftlers zu diesbezüglich
tieferem Nachdenken beitragen:
“Ja. Die Arbeit von Schopenhauer ist wohl die beste, die je über den
freien Willen geschrieben wurde. Der Mensch hat zwar einen Willen, aber
er kann diesen Willen nicht selbst willentlich beeinflussen. Das ist
auch logisch unmöglich: Wenn wir unseren Willen beeinflussen könnten –
wodurch würde der Wille, der unseren Willen treibt, beeinflusst? Wieder
durch einen Willen, einen dritten, vierten, fünften? Schon seit dem
Mittelalter haben kluge Menschen dieses Problem der willentlichen
Willenssteuerung erkannt.” (G. Roth)
So schreibt ein Wissenschaftler aus der Sicht eines neurobiologischen
Konstruktivismus und offensichtlich als Atheist (allenfalls als
Agnostiker). Dabei bleibt unbeachtet, dass naturwissenschaftliche Logik
grundsätzlich ungeeignet ist, Aussagen im Bereich der Metaphysik zu
bewerten.
Ein religiös Glaubender würde diesem unendlichen Vorgang „willentlicher
Willenssteuerung“ ein Ende setzen, indem er Gottes Willen als
letztentscheidende Instanz annimmt, was allerdings eine diesbezügliche
Verbindung dieses Menschen zu Gott und die Beachtung seines Willens
voraus setzt. Dabei fragt sich, welcher Mensch den Willen eines Gottes
in allen erdenklichen Lebenslagen zu kennen vermag.
Damit schließt sich der Kreis wieder zur Ausgangsthematik, nämlich dem
fortwährenden Disput zwischen religiös inspiriertem Glauben (an einen
Gott) und dem naturwissenschaftlich-positivistisch angelegten Glauben,
dass ein solcher eben nicht existiert.
Irgendwie dreht man sich bei dieser Thematik immer wieder im Kreis; man
könnte auch annehmen, sich in einem Labyrinth zu bewegen, ohne eine
geeignete Strategie zu haben, den Ausgang in angemessener Zeit (also
jeweiliger Lebensspanne) zu finden.
Damit unterbreche ich diese Überlegungen, um bei deren Erläuterung
(einmal mehr) nicht zu lange werden zu wollen. Dieses Thema wird uns
wohl nicht so schnell abhanden kommen.
Bester Gruß! - Karl
PS: Die Art des von Dir solchermaßen geführten Dialogs finde sehr
hilfreich, eigene Vorstellungen, Festlegungen etc. zu hinterfragen, d.h.
diese jeweils auf’s Neue mit dem pro und contra der ausgetauschten
Argumente abzugleichen; angelehnt etwa an Verfahrensweisen gemäß dem
Bayes-Theorem, wie diese in der Informations- wie auch in der
Erkenntnistheorie als A Priori-A Posteriori-Distinktion angewendet
werden.Konkret bedeutet dieserVergleich, dieWahrscheinlichkeit für die
Gültigkeit einer x-beliebigen Annahmebei Beachtung andersartig gegebener
Sichtweisen und unter Einbeziehung des eigenenVorwissens zu
evaluierenund sich damit einer hinreichend mehrheitlich akzeptierten
Faktizität der ausgetauschten Argumente bzw. einem Minimalkonsens
annähern zu können.
Moral als
Normensystem beschreibt bzw. gibt einen konkreten
Handlungsrahmen für sittliches Verhalten. Dieses gilt für Religionen,
insoweit sie sich als Wertesystem verstehen und dessen Einhaltung
einfordern, etwa die zehn Gebote der christlichen, der Halacha der
jüdischen Religion oder dem Koran (Hadith/Sunna) des Islam.
Kleine Anmerkung: Der Begriff für den Koran wäre Scharia. Denn die Scharia
ist der Koran selbst und die Sunna des Propheten, die in Hadithen
überliefert wurde. Und damit sind wir schon in der lustigen Diskussion:
Denn es gibt wieder Konfessionen des Islams, die einige Hadithe oder alle
nicht anerkennen.
Das Christentum hat neben den 10 Geboten noch die Bergpredigt und weitere
Gebote.
Es ist eine aus dem eigenen Charakter (Ethos)
erwachsende
Verantwortlichkeit, die einer (von Religion und Ideologie unabhängigen)
grundsätzlich angelegten Ethik folgt und damit als Lebensaufgabe jedes
an Zielen und Lebenssinn orientierten Menschen in seinem unmittelbar
persönlichen, wie selbstredend auch im weiteren gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und ökologischen Umfeld gesehen werden kann.
Das entspricht aber den Aussagen sehr vieler Leute, dass es bei der Moral
letztlich auf den Charakter ankommt, nicht auf die richtige ethische
Theorie.
PS: Damit die Beiträge nicht zu lang werden (wie
so oft bei mir), möchte
ich auf Deine weiteren Argumente demnächst eingehen.
Eigentlich wollte ich darauf warten, aber da jetzt schon eine weitere
Debatte sich eröffnet, antworte ich doch mal.
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