Am 22.09.2020 um 17:33 schrieb Ingo Tessmann:
Am 22.09.2020 um 03:16 schrieb K. Janssen via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Es mag die Definition eines „Systems“ unterschiedliche Ausprägungen haben, dass jedoch
eine aus funktionalen Elementen zusammengesetzte Einheit sowohl natürlich als eben auch
von Menschen zusammengefügt sein und damit systemtheoretisch beschrieben werden kann,
sollte schon konsensfähig sein.
Hi Karl,
warum immer die anthropomorphe Redeweise?
Grundsätzlich stehe ich dieser Redeweise selbst (besonders im Hinblick
auf theologisch oder metaphysisch anthropomorphe Sprach- bzw.
Begriffsprägung) kritisch gegenüber. Offen gesagt kann ich aber bei
meinem Einwand zu dem von wh benutzten Systembegriff keinen Bezug auf
Anthropozentrik erkennen.
Wenn ich also meine, dass eine aus funktionalen Elementen
zusammengesetzte Einheit (entweder natürlich oder von Menschen
zusammengefügt) als ein System betrachtet und somit auch
systemtheoretisch beschrieben werden kann, verblüfft mich
außerordentlich, dass Du den Systembegriff für eine von Menschen
geschaffene Funktionseinheit selbstverständlich widerspruchsfrei
annimmst, hingegen nicht für natürlich zusammengefügte „Systeme“.
Die Natur fügt nichts zusammen, sie handelt auch
nicht. Menschen fügen Systeme zusammen, sind aber selbst nicht zusammengefügt, sondern der
Natur erwachsen. Selbstredend ist auch die Natur nicht gemacht oder zusammengefügt, sie
evolviert aus sich selbst heraus und wächst nicht zielorientiert oder zweckmäßig wie wir
funktional technische System zu konstruieren pflegen.
Dieser Aussage stehe ich sehr
verwundert gegenüber! Aber zunächst
müssten wir wohl definieren, was mit „Natur“ beschrieben sein soll. Zu
allgemein ist die Rede von „die Natur“ bzw. Evolution, als dass damit
(weit über Darwin hinausgehende) Überlegungen/Vorstellungen zur
Evolutionstheorie wie etwa die progressive Evolution, hier z.B. Ivan I.
Schmalhausens Epimorphose eingehend betrachtet werden könnten.
Um es kurz zu sagen: Die Biologiebücher sind voll von Beschreibungen
(eben) biologischer Systeme (so auch die Grundsatzwerke wie Englers
„Systematik der Pflanzen“). "Natur" ist demnach nicht gemacht, jedoch
ist sie (sinn- und zweckvoll zusammen) gefügt.
Nun gut, Biologie ist nicht mein hauptsächliches Interessengebiet und so
sollte ich mich diesbezüglich mit Statements zurückhalten. Vielleicht
finden sich unter uns philweb-Teilnehmenden Fachleute, die hier über
biologische Systeme beitragen möchten.
Aber nochmal zu:
/[Natur] evolviert aus sich selbst heraus und wächst nicht zielorientiert
oder zweckmäßig /
Diese Festlegung entspricht nicht meiner Kenntnislage, insofern ich
Evolution längst nicht mehr ausschließlich am klassischen Modell des
Darwinismus festmache, sondern weitergehende evolutionstheoretische
Modelle in Betracht ziehe. So z.B. die Denkschule der „Frankfurter
Evolutionstheorie“ oder die oben erwähnten Arbeiten von Ivan
Schmalhausen (Evolutionsfaktoren) .
Interessant an dieses Faktoren finde ich, dass der Veränderung
bewirkende evolutionäre Informationsfluss unidirektionalvon der Genetik
zur Charakteristik verläuft, was m.E. einer klaren Ausrichtung
(Zielorientierung) entspricht. Diese Veränderungsrichtung ist durch
Evolutionsfaktoren festgelegt (erbliche Mutation, genetische
Rekombination, gerichtete Selektion, Gendrift). Auch bei diesem Modell
sind neben dem Evolutionsfaktor der Mutation, Genfluss und -drift
zufällig erfolgende Evolution, die entscheidende Richtungskomponente
jedoch ist die Selektion. Mit Bezug auf dieses Modell kann man nicht von
fehlender Zielorientiertheit bzw. Zweckmäßigkeit sprechen (m.E. auch
nicht beim klassischen Modell, da Selektion immer einem Lebens-Zweck
förderlich ist.)
Nun kommt in Schmalhausens Vorstellung von evolutionärer Umgestaltung
der Biosphäre ein Aspekt zum Tragen, den ich hier vor Jahren mit
Überlegungen zu Teilhard de Chardins Noosphäre erörtert habe.
Schmalhausen sieht darin (in Anlehnung an Wladimir I. Wernadski) eine
Sphäre der (menschlichen) Vernunft: Der Mensch, als höchst entwickeltes
Wesen (welch anthropozentrische Annahme!) würde sich darin über alle
weiteren Lebewesen hinausheben.
Verwegen, diese Vorstellung! Und dennoch nicht so abwegig, wie einige
Futuristen (Sci-Fi) wohl gerne an Schmalhausens Begriff der Epimorphose
(biologische Evolution) die Vorstellung aufbauen wollten, den Menschen
von der evolutionären Weiterentwicklung sonstig irdischer Lebewesen
abzukoppeln und sich in extraterrestrischen Gefilden anzusiedeln. Was
mich anbelangt, überlasse ich diese Gefilde gerne den Astrobiologen :-)
Auch die Rede von einem „Schöpfergott“ ist ja bloß
anthropomorphes Geschwafel.
Im Kontext der von Dir kritisierten anthropomorphen
Gottesvorstellung
würde ich ohne Zögern insoweit zustimmen, als diese Vorstellung unter
naturwissenschaftlich, evolutionstheoretischen Gesichtspunkten nicht
haltbar ist. Nicht beistimmen werde ich jedoch, wo Menschen, die sich
aufgrund ihrer religiösen Prägung (wie auch immer diese zu bewerten sei)
die Vorstellung eines „göttlichen Schöpfungsakts“ hegen, durch
abwertende Wortwahl (hier also Geschwafel) verletzt würden. Religion hat
Tradition und spezifische Wertvorstellungen, die sich erwiesenermaßen
(zumindest als Regelwerk) positiv auf die psychische Stabilität von
Menschen und damit deren soziale Umgebung auswirken können. Ich denke,
dass wir trotz allem Fortschritt in den Naturwissenschaften nicht der
Versuchung erliegen sollten, abschätzig auf jene zu blicken, die es aus
vielerlei Gründen nicht vermögen, (objektiv gesehen) überkommenen
Anschauungen ihres jeweilig sozialen bzw. religiös geprägten Umfelds zu
entrinnen.
Es ist sicher kein Zufall, dass allenthalben von
Systemtheorie gesprochen wird, aber nicht abgrenzend dazu von Organismentheorie. So wie
wir Natur und Technik nicht organismisch vermenschlichen sollten, sollten wir die Menschen
auch nicht systemisch technisieren. Bertalanffy hatte in den 1920er Jahren noch methodisch
von „organismic biology“ und erklärend von „system theory of the organism“ geschrieben.
d'accord
Lebewesen wurden schnell als "lebende
Systeme" verstanden und die Kybernetik gleichermaßen auf Tiere und Maschinen bezogen.
Aber sind dabei nicht von vornherein die Unterschiede zwischen Leben und Technik
eingeebnet worden? Unterfällt die Biosphäre der Erdsystemforschung oder ist sie besser als
Organismus aufzufassen, wie in der GAIA-Hyphothese angenommen wird?
Darüber muss ich
gelegentlich tiefer nachdenken. Grundsätzlich sollte
einer systemischen (auf Kybernetik aufsetzenden) Betrachtung von Mensch
und Tier nichts entgegenstehen, wenn dies beispielsweise einer
strukturiert angelegten Untersuchung von Körper-Organen oder
Gehirnfunktionen dienlich ist; doch ich glaube, Du beziehst Dich
diesbezüglich auf einen anderen Aspekt.
Besonders deutlich dürften meine Vorbehalte gegen das
Systemparadigma werden, wenn wir uns die Berufsfelder des Arztes und des Ingenieurs
vergegenwärtigen. In der SciFi-Perspektive könnten gleichwohl einmal Roboter in Umlauf
kommen, die einem menschlichen Organismus nahe kämen, sich ohne Plan selbst reproduzierten
und fortentwickelten, nicht mehr einfach zerlegt werden könnten, ein PSM (phänomenales
Selbstmodell) generierten und so etwas wie Selbstheit, Meinigkeit und Perspektivität
ausbildeten.
Das könnte eines unserer nächsten Themen hier werden. Allemal
hochinteressant!
Wieder mal hier sehr weit ausgeholt … daher ein break an dieser Stelle.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl