Am 02.06.2021 um 22:25 schrieb Ingo Tessmann via
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Gemäß arrogantem deutschen Kulturdünkel gilt es noch immer als schick, mit
Mathe-Ahnungslosigkeit zu kokettieren. Aber zum Glück gibt es neuerdings junge Leute, die
dem Motto folgen: Unite behind the science!
Hi there,
ergänzend dazu passt die Empörung Alfred Döblins beim Lesen Einsteins, aber sein Sohn
Wolfgang war ein herausragender Mathematiker geworden. Elke Flatau berichtet in „Der
Wissenschaftliche Autor" über die Frustration Alfred Döblins beim Lesen des gerade
für einen Leser wie ihn geschriebenen Buches Einsteins: „Über die spezielle und die
allgemeine Relativitätstheorie“. „Es begann scheinbar populär; nach einigen Seiten brachen
die Formeln los, die infamen kabbalistischen Zeichen der Mathematik. [...] Ich hörte von
allen Seiten, hier würden Dinge verhandelt, die zu den allerwichtigsten für einen
denkenden Menschen gehören. Vorstellungen würden hier evident gemacht, die eine Umwälzung
des gesamten Weltbildes nach sich zögen. [...] diese neue Lehre aber schließt mich und die
ungeheure Menge der Menschen, auch der denkenden, auch der gebildeten, von ihrer
Erkenntnis aus! [...] Jedoch hat sich dieser Verfasser, und es haben sich alle diejenigen,
die ihm recht geben (oder recht zu geben scheinen) geirrt, wenn sie glauben, ich lasse
mich um mein angeborenes Recht auf Erkenntnis der Welt prellen.“
Leider konnte sein Sohn ihm nicht auf die Sprünge helfen. 2006 hatte Wioletta Magdalena
Ruszel an der Universität Potsdam ihr Diplom in Mathematik erhalten mit der Arbeit:
„Wolfgang Doeblin: Wegbereiter zum Ito Kalkül". Folgenden Ausspruch des Wegbereiters
stellte sie ihrer Diplomarbeit voran: „Ich habe das Recht meine Meinung zu sagen, denn ich
bin einer von denen, der für seine Ideen sterben würde.“ Und so geschah es dann auch. Dem
Deutschtum überdrüssig, ging er rechtzeitig ins zivilisiertere Frankreich — wo er auch bei
dem Stochastiker Levy studierte — und meldete sich zum Kriegsdienst gegen die Nazis. Im
Juni 1940 wurde sein Bataillon im Norden der Vogesen von den Deutschen umkreist und
eingenommen. Wolfgang floh in der Nacht vom 20. Juni. Aber er kam nicht weit. Als er die
Ankunft der deutschen Soldaten bemerkte, verbrannte er einige seiner Papiere und Arbeiten
auf einem Bauernhof und nahm sich am Morgen des 21. Juni 1940 das Leben. 1991 wurde zu
seinen Ehren eine Konferenz abgehalten: „Doeblin and Modern Probability“.
Ist das nicht ein so tragischer wie interessanter Zusammenhang zwischen Person und Zufall,
Literatur und Mathematik, wie er zugleich zum Schwadronieren und Formalisieren taugte? So
weit ich weiß, hat sich noch kein Schriftsteller oder Filmemacher der beiden Doeblins
angenommen, um ihre Geschichte angemessen im Kontext von Krieg und Frieden zu erzählen.
IT