Lieber Claus,
ich versuche, auf einiges zu reagieren:
- "Ich kann nichts dafür" ist wohl einer der gleichzeitig unglücklichsten und
falschesten Sätze überhaupt. Jeder kann immer etwas "dafür". Das ist eben das
(eben vielleicht nicht nur theologisch sinnvolle) Theorem der "Urschuld", der
grundsätzlichen Verdorbenheit der menschlich-körperlichen Existenz. Nicht daß niemand uns
gefragt hat, als wir in die Welt "geworfen" wurden (wie die Existentialisten
immer jammern), sondern daß die WELT niemand gefragt hat, ist das Skandalon: wir werden
eigentlich nicht gebraucht, wir sind nicht nur überflüssig, sondern: wir stören. Unser
reines Dasein ist per se schuldbeladen. (Es gibt in Simmels Soziologie die These, daß
Gesellschaft nur möglich ist, weil sie mit der fundamentalen Voraussetzung operiert, daß
für jedwedes Individuum in ihr ein "Platz" ist; das gilt eben für die
menschengemachte - und historisch: westlich-demokratische - Institution namens
Gesellschaft, für die "Natur" oder für "die Welt" gilt das nicht). Es
geht also um ein prinzipielles "schlechtes Gewissen", das gar nicht aus einer
versäumten und je wieder gutzumachenden (Nicht-)Handlung stammt. Die ganzen
philosophischen und literarischen Strömungen des Pessimismus und Nihilismus (ich lese z.B.
zur Zeit gerade Giacomo Leopardi) haben diese urkatholische Grundintuition eigentlich
übernommen - und verschärft, indem sie den tröstenden Heilsgott daraus gestrichen haben.
- Ich weiß, daß (auch) das eine hochproblematische Vorstellung ist, weil sie natürlich
auch zur Legitimation von Gewalt und Immoral und Quietismus herhalten kann. Gerade darum
ist eben diese Ablaß-Idee wichtig: man kann, in kleinem, nichts Wesentliches verändernden
Rahmen, doch etwas "tun", und auf gewisse, temporäre und beschränkte Weise
"Sühne" leisten. Man kann sich von seiner Grundschuld stückchenweise und in
geringem Ausmaß "freikaufen" - und das muß ja nicht nur in monetärer Form sein,
sondern etwa auch durch die eine "gute Tat" pro Tag
("Werkgerechtigkeit" nannte Luther das abschätzig, weil er es in seinem Eifer
nicht begriffen hatte). Aber das Wichtige und spezifisch "Katholische" daran ist
eben: es gibt Minderung, Milderung, "Nachlaß", schon in dieser Welt, und nicht
erst im Jenseits (diese ganze Heils-Verlagerung ins Jenseits, die man dem Christentum
immer so stereotyp vorwirft, stimmt gerade für den Katholizismus NICHT! Daher ja auch die
(ebenfalls temporäre) katholische (Aus-)Gelassenheit, Lockerheit, Feierkultur: siehe
"Karneval", usw.).
- Unabhängig von der theologischen Stimmigkeit: die möglichen Parallelen und
"Anwendungen" auf das ökologische Tun und Lassen liegen meiner Meinung nach auf
der Hand. Ich plädiere daher für eine "katholische Ökologie"...
So ungefähr denke ich das gerade.
Ciao
Joachim
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Claus Zimmermann <mail(a)clauszimmermann.de>
Gesendet: Donnerstag, 22. August 2019 02:21
An: philweb(a)lists.philo.at; Landkammer, Joachim <joachim.landkammer(a)zu.de>
Betreff: Re: [Philweb] Die Lust am Schweigen
Schön, daß du wieder dabei bist. Aber: ich verstehe nicht, warum du jemandem, der deiner
Meinung nach nichts dafür kann, ein schlechtes Gewissen machen willst. Das wäre doch eine
Grausamkeit, die zu nichts führen würde, denn eine Änderung des Verhaltens wäre nicht
möglich. Ich vermute also, daß du sie vielleicht zwar für unter Umständen sehr schwierig,
aber nicht unmöglich hältst und deshalb nicht gleich nicht die Guillotine wenn auch in
abgemilderter Form durch soziale Kontrolle, sondern eine Rechnung für die verursachten
Kosten angemessen findest.
Nicht vorwerfbar wäre das Verhalten z.B. bei geistigen Störungen, unverschuldeten
Rauschzuständen durch K.O.-Tropfen oder ähnlichem. Auch im Fall von grossem äußerem Druck
würden wir dem Menschen zwar keinen Orden dafür verleihen, wenn er ihm nachgibt, aber ihn
auch nicht dafür bestrafen. Du weist auf das hin, was uns historisch, kulturell und als
Gattungswesen in den Knochen steckt. Dazu kommen die Umstände des Einzelfalls. Es ist
sicher sehr schwer, das zu überspringen. So finde ich es angemessen, nicht gleich
"Kopf ab" zu rufen, wenn das nicht geschafft wird, aber die Kosten, nicht als
Schikane, sondern so, wie sie anfallen, in Rechnung zu stellen. Auch das schlechte
Gewissen wäre dann nicht sinnlos und selbstzerstörerisch.
Das steht alles unter der Prämisse, daß es wirklich so kritisch ist, wie die Mehrheit der
Experten sagt und was ja auch mit Alltagserfahrungen übereinstimmt. Interessengeleitete
Stimmen gibt es vermutlich auf allen Seiten. Eigentlich müsste man dann versuchen, der
Sache selbst auf den Grund zu gehen. Aber ich fürchte, das übersteigt meine
Möglichkeiten.
Übrigens sagt Niko Paech nicht, daß verzichten immer nur die anderen sollen, sondern daß
man von anderen nicht mehr verlangen soll als von sich selbst. Aber es gehört nicht viel
Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie verschärfte soziale Kontrolle in der Praxis
aussehen und wer dabei gewinnen und verlieren würde.
Claus
Am 21. Aug. 2019, 12:09, um 12:09, "Landkammer, Joachim via Philweb"
<philweb(a)lists.philo.at> schrieb:
[Philweb]
Naja, "genial gelebt" bringt es wieder in die falsche Richtung...
Auch wenn man natürlich mit dem Wort vorsichtig umgehen muß: aber ich
würde schlicht von "Tragik" sprechen (so etwa wie Georg Simmel von der
"Tragödie der Kultur" gesprochen hat). Unser westlich-aufgeklärtes, auf
den bekannten Werten des rationalen selbstbestimmten Individuums
beruhendes Leben gerät in den Konflikt mit einer Natur und einer
(Um-)Welt, die eben eher genügsame, ihren biologischen Instinkten und
Selbstdezimierungsprozessen (Viren, Gendefekte und sonstige
überlebenshinderliche Schwächlichkeiten) unterliegende Spezies
toleriert, als eine solche die kraft ratio und Technik sich von (fast)
allen natürlichen "Feinden" und Feindschaften (denn das ist die andere
Naivität der kleingeistigeren unter den Öko-Aposteln: die Natur steht
uns natürlich viel eher feindlich als freundlich gegenüber: ich sage
nur Zecken, Heuschrecken und Disteln!) unbesiegbar und damit sich "die
Erde untertan macht", und zwar in einem megalomanen Ausmaß, den das
etwas unvorsichtige Bibelwort wahrscheinlich nie ahnen konnte.
Aber angesichts der komplexen historischen, geistesgeschichtlichen,
ethischen und nicht zuletzt anthropologischen Voraussetzungen und
Verstrickungen, die zu diesem tragischen Konflikt geführt haben und
führen mußten, nun zu meinen, es genügten einfache "Umkehr"-Predigten
und Verzichts-Appelle (die ja sowieso letztlich meist neidgesteuert
sind, weil "verzichten" sollen ja bloß immer die anderen), scheint mir,
wie gesagt, naiv, fragwürdig, falsch... Solche Praxen wie das, wofür
symbolisch die katholische Ablaßidee steht, leisten hingegen zumindest
eines: sie belasten unseren unweigerlich schuldhaften Lebenswandel mit
einer unaufhebbaren Hypothek der Insuffizienz (DAS wäre nämlich mein
Schlagwort gegen Paechs neo-rousseauistische "Suffizienz"-Idee!), des
Ewig-Ungenügenden, ohne aber diesen Lebenswandel gänzlich unmöglich zu
machen: man "darf" trotzdem weiterleben, in selbst-bestimmter,
selbst-verantworteter Schuld, Demut und Fallibilität - anstatt auf
andere zu deuten, denen man Vorschriften zum einzig wahren und "reinen"
Lebensführung macht, um selbst nichts tun zu müssen.
So ungefähr hatte ich mir das gedacht mit diesem "laizistischen
Neo-Katholizismus"... aber sicher bin ich mir selbst natürlich auch
nicht ganz...
Joachim Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Philweb <philweb-bounces(a)lists.philo.at> Im Auftrag von Karl
Janssen via Philweb
Gesendet: Mittwoch, 21. August 2019 09:41
An: Philweb(a)lists.philo.at; K. Janssen <janssen.kja(a)online.de>
Betreff: Re: [Philweb] Die Lust am Schweigen
[Philweb]
transmitted from iPad-Client
Am 21.08.2019 um 01:40 schrieb K. Janssen via
Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am 20.08.2019 um 23:27 schrieb Landkammer,
Joachim via Philweb:
[Philweb]
(Ich probier auch nur mal kurz meinen account wieder aus...)
nix da mit "nur kurz ausprobieren" :)) Wir sind froh, endlich wieder
von Dir zu hören! Und das bei diesem Beitrag, den es erst einmal genau
zu lesen und zu überdenken gilt.
Grüß Dich bestens! - Karl
> Nico Paechs grundsätzliche Endzeit-Ausführungen würde ich evtl.
versuchen, mit einer Rehabilitation des von ihm als Gegenmodell
genannten, vielgeschmähten Ablaßhandels zu unterlaufen. Denn genau das
war ja der eigentliche, tiefere Sinn des Tauschs Geld gegen
Sündenerlaß: ein kleiner, überschau-, aber kontrollierbarer Zeitgewinn
angesichts einer eschatologischen (das Lebens- und Weltzeitende
implizierenden), aber dann doch nie so ganz gewissen
Untergangs-Bedrohung. Die psychologisch schlicht unpräzise und
unterkomplexe Unterstellung dabei ist doch, daß, wer er sich von seinen
Sünden "freikauft", deswegen danach einfach kreuzfidel munter weiter
sündigt, daß man also nur Scheinverzicht treibt und lediglich
kosmetische Oberflächen-Selbstkorrekturen vornimmt. Nein, die realen
(auch psychischen) Kosten des "Ablaßgeschäfts" erinnern mich permanent
an meinen ja immer nur provisorisch und temporär abgemilderten Status
der (Erb!-)Sünde und zeigen mir an, daß ich grundsätzlich (weiter) und
immer "falsch" lebe. Das als "Doppelmoral" zu bezeichnen (wie NP das
tut), ist selbst eine hoch moralistische Wehklage (auch sie mindestens
so alt wie der lutherische Antikatholizismus), die verkennt, daß
Menschen eben grundsätzlich diese Dilemmata nicht nur leben, sondern
"sind". Wir SIND ökologisch eigentlich untragbar.
Unter diesem (höchst subtil ausgelegtem) Blickwinkel gesehen, würde N.
Peach vermutlich auch nicht von „Doppelmoral“ in Anbetracht der
offensichtlichen Zwiespältigkeit in der Lebensgestaltung diesbezüglich
beschriebener Bevölkerungsgruppen sprechen. Eher wohl - und auch da
würde ich ihm zustimmen - wäre das gezeigte Verhalten einer (schon
pathogenen) Ambivalenz zuzuschreiben; eine Zerrissenheit zwischen
unterschiedlichsten konzeptionellen Denkansätzen, Theorien, Statements
zu jeweils aktuellen Problemfeldern der absehbaren Umweltkatastrophe.
Eine Zerrissenheit, wie sie insbesondere auch bei jenen sichtlichen
Ausdruck annimmt, die unter dem unerträglichen Druck der Erbsünde und
ihrer zwingend darauf folgenden Verfehlungen leiden. Nitzsche
sinngemäß: Die Katholiken - sie sehen mir alle so wenig erlöst aus!
Welch Parallelen sich hier doch auftun! So wird „Ablasshandel“
tatsächlich zum Gnadenakt für uns Erdenkinder - genial gelebtes „amor
fati“.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
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