Hallo Ingo,
Ich beschäftige mich schon eher zu viel mit Dingen, für die ich völlig talentfrei bin.
Mathe und ich, das wird nichts.
Theoretisch könnte ich mir vorstellen, daß man Mathematik über den technischen Aspekt
hinaus auch schön finden kann.
Man könnte auch das Zählen als eine Art Bewusstseinserweiterung betrachten. Der zählende
Mensch hat bei allem, was damit verbunden ist, wahrscheinlich eine andere geistige
Verfassung als der nicht zählende. Trotzdem würde ich persönlich die Erfindung dieser oder
jeder anderen Technik nicht als Philosophie betrachten.
Grüsse, Claus
Am 12. März 2020, 14:40, um 14:40, Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de> schrieb:
Am 11.03.2020 um 17:58 schrieb Claus Zimmermann
via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
D.h. sie untersucht, was ihre Definitionen implizieren? Man kann -
Achtung,
Binsenweisheit - natürlich alles aus einem Wort herauslesen,
das man vorher hineingelegt hat. Aber es wäre doch albern, das als
grossartige Entdeckung zu verkaufen. War das nicht ungefähr Kants
Kritik an Beweisen aus Begriffen?
Etwas anderes wäre es, zu sagen: *wenn* du das so
verstehst,
bedeutet/impliziert das..., *wenn* du es so verstehst, sagst du
damit...Dann geht es nicht um neue Erkenntnisse, sondern um die
Besinnung auf selbst gemachte Zeichenregeln, um nicht auf die Idee zu
verfallen, darin etwas weniger banales zu sehen. Nannte Nietzsche die
Sprache nicht sinngemäß die Metaphysik des kleinen Mannes?
(Gedächtniszitat)
Diese "Entzauberung" bezieht sich aber
nicht auf "poetischen Zauber".
Der ist ja erfahrbar. Man steht nicht bei
genauerer Betrachtung mit
leeren Händen da.
Hi Claus,
Nietzsche zählte ja zu den literarischen Philosophen und sah das
Christentum als Platonismus fürs Volk und die Grammatik als
Volksreligion an. In der Einteilung der Analytiker nach Normal- und
Idealsprachler könnte er als ein Vorläufer der Normalsprachler gelten
und hielt mit seiner Kritik an dem vielen unsinnigen Gerede nicht
hinterm Berg. Dafür schätze ich ihn. Und die Analytiker insgesamt
schätze ich dafür, dass sie zunächst einmal Sprachkritik üben, egal ob
normal oder idealsprachlich. Dabei stelle ich mir gerade vor, was
geschähe, wenn es ähnlich wie bei der Seekrankheit zu Übelkeit und
Erbrechen führte, wenn jemand Unsinn daherredete. Aber leider reagiert
unser Hirn bei mentalen Inkonsistenzen nicht so dramatisch wie bei
sinnlichen.
Der Unterschied zu den Naturwissenschaften ist
offensichtlich. Durch
Selbstbesinnung wird man nichts über den Siedepunkt einer
Flüssigkeit
herausfinden. Insofern bin ich ebenso erstaunt, zu hören, daß
analytische Philosophie sich an der Naturwissenschaft orientiert wie
mich der umgekehrte Fall wundern würde.
Und wenn es nicht um konkrete Erfahrungen geht,
was könnten einem
dann mathematische Quantifizierungsmethoden nützen? Mathematik
und
Erfahrungswissenschaften gehören zusammen, denn bei Erfahrungen kommt
es immer auf Mass und Zahl an. In der Philosophie kann Mathematik aber
nur Thema und nicht Methode sein. (Wittgenstein: In der Philosophie
wird nicht gerechnet.)
Ja, auch (der spätere) Wittgenstein zählt zu den Normalsprachlern, ging
aber bei dem Idealsprachler Russell in die Lehre. Was die
Idealsprachler an den Naturwissenschaften so begeistert, ist die
überragende Bedeutung der Mathematik, die die Naturwissenschaftler
immer wieder zu nie geahnten Einsichten und Experimenten anspornt.
Warum soll das nicht auch in der Philosophie funktionieren? Über unsere
Sinnlichkeit und unser Tun hinausgedacht, geht es dabei nicht mehr
primär um Quantifizierung, sondern um die Eröffnung von „Denkräumen“,
die weit über den winzigen Horizont der Normalsprache und des
Alltagserlebens hinausgehen. Das ist wahre Bewusstseinserweiterung,
also ein genuines Feld für Philosophen, die sich deshalb auch mit der
mathematischen Mengen-, Typen- und Kategorientheorie auskennen sollten,
wie beispielsweise Alain Badiou, der in "Das Sein und das Ereignis“ den
dialektischen Materialismus in ihnen aufgehen ließ. Mathematik war ihm
also nicht Thema, sondern Methode, wobei er besonders von dem
sogenannten Forcing Gebrauch machte, das Cohen beim Bedenken der
Kontinuumshypothese zum Durchbruch verholfen hatte.
Die Gegenüberstellung "Analytische vs. kontinentale Philosophie“ ist
nur im Kontext der Vertreibung vieler führender Intellektueller durch
die Nazis zu verstehen, denn ein wesentlicher Ursprung der Analytiker
liegt gerade auf dem Kontinent. Lesenswert dazu: Friedrich Stadler,
"Der Wiener Kreis, Ursprung, Entwicklung und Wirkung des
Logischen Empirismus im Kontext“. Einleitend heißt es darin: "Am Beginn
wissenschaftlicher Philosophie in der Habsburger-Monarchie steht ohne
Zweifel der Prager Volksbildner, Philosoph, Mathematiker und Theologe
Bernard Bolzano (1781 bis 1848).“ Der böhmische „Anti-Kant“ konnte
"durch seine Schüler im österreichischen Geistesleben einen
entscheidenden Einfluss ausüben, der sich einerseits in der
Thun-Hohensteinschen Bildungsreform, andererseits in der eher
indirekten Rezeption bei Frege und der polnischen Logikerschule um
Kasimir Twardowski niederschlug. Weil der deutsche Idealismus von Kant
bis Hegel in katholischen Habsburgerlanden als revolutionär
zurückgedrängt wurde, konnte Bolzano mit seiner objektivistischen
Erkenntnis und Wissenschaftslehre (1837 ff.), speziell der Theorie von
„Wahrheiten und Sätzen
an sich“, die moderne Logik und Mathematik von Tarski bis zum Wiener
Kreis antizipieren: Durch die „semantische Wende“ seiner
antipsychologistischen Philosophie prägte er die Mengenlehre genauso
wie Karl Poppers Drei-Welten-Lehre oder Gödels „logischen Realismus“.
Der mathematische Mentor des Wiener Kreises, Hans Hahn, lieferte zum
Beispiel Anmerkungen zu Bolzanos Paradoxien des Unendlichen (1920) und
edierte zusammen mit Alois Höfler ab 1913 weitere Schriften des
„böhmischen Leibniz“ – wie Bolzano auch genannt wurde.“
Es grüßt,
Ingo