Rf: Warum glaubt der Mensch an abstrakte Entitäten?
Lange schon verharrt nun dieses Thema hier in philweb in seligem
Dornröschenschlaf und überhaupt scheint uns alle eine Schreibblockade
befallen zu haben. Warum auch noch selbst schreiben, wo doch
Geschriebenes uns tausendfach aus allen möglichen Quellen moderner
Kommunikationskanäle entgegen quillt. Und je weltfremder,
ideologisierter, sendungsversessener, je mehr pseudo-intellektuell
dekoriert oder dümmlich-dumpf aufgeblasen uns als Information verpackte
Meinungen, Überzeugungen erreichen, regt sich dagegen bisweilen massiver
Widerstand in uns: abhängig von der behandelten Thematik und von unserer
gesellschaftspolitischen Konditionierung, mündend in zornig innerem oder
lautstarkem Protest oder einfach nur mehr in Resignation. Für den einen
mag es also inzwischen zum Überdruss geworden sein, von – sich
epidemieartig über sog. soziale Netzwerke verbreitende – inszenierten
Aufgebrachtheiten einer Empörungskultur (von welcher Seite und gegen
welchen Sachverhalt immer) mitgerissen zu werden; für den andern,
seinerseits frustriert vom Kampf für die gute Sache, für die heile Welt,
heißt es erneut Kräfte zu sammeln für nächste Runden im Boxring unserer
Lebenswelt und sei es nur, um ehrenwert als Don Quijote zu enden.
Letztlich für alle: rastloser, erschöpfender Tanz um ein illusionäres
ICH, getrieben von (An)Reiz, zermürbender Selbstreflektion und
gesellschaftlichem Zwang, verstärkt durch die zurecht bestehende Sorge
um den Erhalt unser Lebenswelt als habitable Zone.
Angesichts dessen und weiterer irdischen Unbilden könnte die hier
aufgeworfene Frage, warum Menschen an abstrakte Entitäten glauben,
ursächlich eine einfache Antwort haben: weil Menschen sich aus dem
Jammertal der diesseitigen Welt in das Paradies eines Jenseits wünschen,
das ihnen seit Zeiten - wohl unter gewissen Bedingungen – von jenen
verheißen wird, die darüber hinaus die Existenz eben einer
transzendenten Entität proklamieren. Jenseitiges wähnen, beschwören,
verheißen, predigen und daran glauben; seien es Geister, Götter, sei es
ein einiger Gott. Das lässt fragen, glauben heutige Menschen lediglich
an Jenseitiges, weil man ihnen von klein an einen Gott predigt, zudem
die Auferstehung von den Toten und ewiges Leben in Gottes Angesicht -
bei ihm gefälligem diesseitigen Lebenswandel – verspricht. Oder gründet
dieser Glaube doch eher auf ein ursächliches Momentum der Bewusstwerdung
von Jenseitigkeit ab einer bestimmten Entwicklungsstufe der
Anthropogenese durch Heranbildung kognitiver und soziokultureller
Befähigung. In Anbetracht anhaltend ungesicherter Thesen im Kontext
evolutionsbiologischer Forschung und Paläoanthropologie bietet es zur
Diskussion über sozio-kulturelle Hominisation an, das Auftreten des Homo
Sapiens etwa ab einem Zeitraum vor 100.000 Jahren als den
(wissenschaftlich gesicherten) Anbruch des modernen Menschen anzunehmen.
Spätestens jedoch ab Cro-Magnon (vor 40.000 Jahren) war eine signifikant
gesteigerte kognitive Fähigkeit, einhergehend mit der Ausformung
abstrakt-komplexen Sprachvermögens entwickelt, die soziale Kooperation
und kollektiven Technikeinsatz (Feuer, Werkzeuge, Bodennutzung,
Kunstfertigkeit usf.) ermöglichte. Diese kulturellen Merkmale des homo
sapiens sapiens sind durch Ausgrabungen (u.a. auch dieser Epoche
zugeschriebene Höhlenmalerei) zutage getreten und geben eindeutige
Hinweise darauf, dass sich dieser junge „Jetzt-Mensch“ seiner selbst,
seinem sozialen Umfeld und womöglich auch außerweltlicher Einflüsse,
einem Jenseitigen im Diesseitigen (Hierophanie) bewusst geworden war.
Sehr lange also vor dem Erscheinen von Religionen mit
Offenbarungscharakter (vermittelt durch Propheten), nachdem der sog.
Dominanzwechsel erfolgt war (der Entwicklungsfortgang des Menschen war
von da an nicht mehr dominant durch Umwelteinflüsse, sondern von dem
sich seiner Existenz bewusst gewordenen Homo Sapiens bestimmt), könnten
mit Anbruch des vernunftbegabten Menschen Naturreligionen ihren
signifikanten Anfang genommen haben. Über die zum Lebenserhalt
hinreichend erschlossene Welt hinausreichend tat sich damit eine
unerschlossene (transendente) Welt auf, die man von Geistern und Göttern
bewohnt glaubte. Dieser Welt (des Numinosen) begegnete der frühe Mensch
mit Schauder und Verehrung, was er durch (mit Opfern verbundene) Rituale
zum Ausdruck brachte. Es kann angenommen werden, dass über rituelle
Handlungen zunächst spirituelles Erleben (Entgrenzungserfahrung, wie
heute auch bei Meditation - oder auch unter Drogeneinwirkung - erlebbar)
schließlich zur untrüglichen Empfindung des „numen semper adest“ geführt
hat, sich damit eine Dimension des Religiösen erschlossen und in der
Folge durch Artefakte und entsprechende Verhaltensweisen schließlich ein
religiöses Regelwerk entwickelt hat. Solchermaßen rudimentär religiöses
Empfinden und Handeln könnte sich phylogenetisch (als Gesamtheit) in die
Jetztzeit weitergetragen und fortentwickelt haben. Moderne
neurobiologische Forschung scheint zu bestätigen: spirituelle und
religiöse Veranlagung des Menschen ist polygen eingeprägt und nicht etwa
allein durch Hamers „Gottes-Gen“ VMAT2 (Vesicular Monoamine
Transporter), obgleich es im Zusammenwirken mit DAT (Dopamine
Transporter) eine signifikante Rolle bei der Entwicklung und Ausreifung
des Gehirns spielt.
Von Interesse dabei ist nun allerdings, wie sich derartiges
Wahrnehmungsvermögen (für das Numinose) ursprünglich entwickeln konnte.
Für Kreationisten ist die Antwort entsprechend der biblischen
Schöpfungsgeschichte eindeutig. Obgleich zeitlich keinesfalls in den
erdgeschichtlichen Kontext passend, ficht dieses Faktum die an
naturwissenschaftlicher Ignoranz nicht zu übertreffende Fraktion
bibeltreuer Fundamentalisten nicht an. In rationaler Sicht auf
wesentliche Differentiationsmerkmale der Hominiden ist ein
Funktionswechsel spezifischer Gehirnabschnitte anzunehmen, der sich seit
der Herausbildung von Bipedie durch wesentlich verändernde
Lebensumstände schrittweise vollzog. Neue und höhere Anforderungen
(besonders hinsichtlich Koordinations- und Assoziationsvermögen) wurden
an das Gehirn gestellt, wodurch sich über morphologische
Anpassungsprozesse das Vorderhirn zum übergeordneten Hirnteil
entwickelte. Damit war die physiologische Voraussetzung für
komplex-abstrakte Apperzeption geschaffen. Ein diesbezüglich
neurophysiologisches Spezifikum der Gehirnentwicklung des Homo Sapiens
ist das im Vergleich zum Tier deutliche ausgeprägte Volumen des
Neocortex resp. des Assoziationskortex. Daher lässt sich annehmen, dass
mit dem Erreichen einer gewissen Entwicklungsstufe des Gehirns die
Voraussetzung gegeben war, außersinnliche Empfindungen als
(wiederkehrende) Ereignisse mental zu assoziieren (apperzipierendes
Erschließen bislang unbekannter inhärenter Empfindungen) und als
Erfahrungswert zu speichern. Unter gewissen Gesichtspunkten könnte man
sagen, der Mensch war mit Erreichen dieser spezifischen Gehirnleistung
in die Lage versetzt, neben sinnlicher (intrinsisch motivierter) nun
auch überempirische Perzeption gedanklich zu verarbeiten. Letztere -
mittels transzendentaler Apperzeption - die Wahrnehmung des Numinosen
bewusst macht und damit erst die Interaktion mit übersinnlichen,
immateriellen Informationsfeldern ermöglicht.
Man mag es auch die Befähigung zur Magie nennen (in Resonanz mit
Außersinnlichem kommen) und insoweit sogleich naturwissenschaftlich
orientiertes Befassen mit dieser Thematik einstellen. Mitnichten.
An dieser Stelle kann man den hier (von rf) aufgeworfenen
Informationsbegriff aufgreifen: „Die Information scheint also unabhängig
von ihren Trägermedium zu existieren“.
Information selbst ist definitiv immateriell und wird per se ohne
materielle Anhaftung residieren. Soll sie jedoch im Sinne ihres Begriffs
eine Information über bzw. von etwas vermitteln (also konkretes Wissen
vermehren bzw. verändern), muss sie in physikalische Wechselwirkung (in
Resonanz) treten, somit an einen Träger resp. an Materie gebunden sein,
dies insbesondere, wenn sie gespeichert werden soll. Wenn Information
(als Veranlassung eines zu vermittelnden und zu speichernden Wissens)
keinen Ort, also keine materielle Anhaftung findet, bleibt sie u-topie.
Im Kontext des Themas, also der Frage nach „Glauben an abstrakte
Entitäten“, sollte man vom alltagssprachlichen Gebrauch des
Informationsbegriffs Abstand nehmen. Eher geeignet wird die Definition
von Information als vermittelndes Agens von Formgebung ("Bestimmung der
Form") sein, etwa zur Formgestaltung durch morphogenetische Felder
(Sheldrake). Diese Definition lässt ebenso die hier im Thema
angesprochenen Platonschen Ideen in Betracht ziehen, wie auch weitere
Aspekte antiker und mittelalterlicher Erkenntnistheorien.
So könnte das Glauben an „abstrakte Entitäten“ (für unseren Kulturraum
der Glaube an einen Gott) ebenso in Verbindung mit dieser
Betrachtungsweise gebracht werden: Das nunmehr grundsätzlich hinreichend
entwickelte Menschengehirn bietet Topos und Gelegenheit, um mit (dem
Informationsfeld) einer Schöpfungsidee in Wechselwirkung zu treten, eben
der unübertrefflich göttlichen Idee einer sich fortwährend evolutionär
vollziehenden Formgestaltung. Somit könnte sich der u-topische Glaube
(im Sinne eines naiv-anthropomorphen Gottesbilds) gegen die Überzeugung
von der Omnipräsenz einer raumzeitlich ausdehnungslosen göttlichen
Entität tauschen: „Numen semper adest.“ Hinreichender Grund für heitere
Gelassenheit im Alltagstrubel.
Bester Gruß in die Runde! - Karl