Am 06.12.2020 um 03:00 schrieb K. Janssen via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Einstein mit W de Sitter 1932, in einem vereinfachten Denkmodell ohne kosmologische
Konstante.
Hi Karl,
ja, die Einstein - de Sitter - Kontroverse ist ein interessantes Kapitel der
Physikgeschichte. So äußert sich de Sitter 1917 in einem Brief an Einstein: „Unsere
`Glaubensdifferenz’ kommt darauf an daß sie einen bestimmten Glauben haben, und ich
Skeptiker bin.“
https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/sites/default/files/Preprints/P210.pdf
Ian Steer fragt: "Who discovered Universe expansion?" Und antwortet:
"Lundmark established observational evidence that the Universe is expanding. Lemaitre
established theoretical evidence. Hubble established observational proof.“
https://arxiv.org/ftp/arxiv/papers/1212/1212.1359.pdf
1917 fand Einstein eine statische Lösung für seine Feldgleichungen, die seiner Vorstellung
vom Kosmos entsprach, indem er die kosmologische Konstante einführte, die eigentlich zur
vollständigen invarianten Gleichung dazu gehörte. Die Mathematik war hier bereits genauer
als Einstein. Ein paar Monate später fand de Sitter die Lösung für ein expandierendes
Universum, indem er die von Slipher gefundenen Rotverschiebungen berücksichtige und
gleichfalls die kosmopolitische Konstante beinhaltete.
Erst 15 Jahre späten fanden sich die Kontrahenten zu einer gemeinsamen Veröffentlichung
zusammen in den PROCEEDINGS OF THE NATIONAL ACADEMY OF SCIENCES Volume 18 March 15, 1932.
ON THE RELATION BETWEEN THE EXPANSION AND THE MEAN DENSITY OF THE UNIVERSE. Nunmehr geht
es um die Lösung für ein expandierendes Universum, aber ohne kosmopolitische Konstante.
Warum sie die nicht einfach Null gesetzt hatten, bleibt beider Geheimnis. Andernfalls
wären sie mit der Vermutung von der möglichen Existenz dunkler Energie in die Geschichte
eingegangen, indem sie die nunmehr registrierte beschleunigte Expansion vorhergesagt
hätten.
Ausführlicher wird hier über die Entwicklung der kosmologischen Modelle berichtet:
https://arxiv.org/abs/1107.2281
"Who discovered the expanding universe? Was it Hubble, or Lemaitre, or was it just
the end result of a long series of investigations? In this article we summarise the main
steps and contributions that led to one of the most exciting discoveries ever made, of
which Lemaitre was the principal architect. In 1927 he combined his dynamical solutions of
the Einstein equations with astronomical observations to conclude that the universe is
expanding. He derived the linear velocity-distance relationship and calculated the first
numerical value of what later was called the "Hubble constant". His discovery
paper of 1927 was written in French and in 1931 it was translated into English and
published in Monthly Notices. However, the translation omits the section where Lemaitre
computed the "Hubble constant". Why was that done, and who was responsible? We
do not speculate on this question, but present in a very condensed way the facts along the
path of discovery. The documented details from primary sources can be found in our book
"Discovering the Expanding Universe“.“
Die Relevanz der kosmologischen Konstante sieht auch
Lee Smolin kritisch, dem ich Deine Feststellung geradewegs in den Mund legen würde:
/it, „Die tollsten Ideen bringen nichts, wenn sie nicht funktionieren.“/
Funktion hat demnach erst dann faktische Relevanz, wenn Ideen in konkrete Gestalt
gebracht und (solchermaßen umgesetzt) damit zur Realität werden.
Ich hatte in einer meiner letzten Mails den Maxwellschen Demon erwähnt, den James Clerk
Maxwell 1872 am Ende seiner Theory of Heat im Kapitel LIMITATION OF THE SECOND LAW OF
THERMODYNAMICS diskutiert. Das ist ein schönes Beispiel für eine Idee im Kontext des
Atomismus, wobei die Atome seinerzeit noch eine bloße Hypothese waren, aber das Wissen um
den Entropiesatz generierte in James die tollsten Vorstellungen und geistert bis heute
durch die Hirne vieler Physiker.
1984 erhielt Simon van der Meer anteilig den Nobelpreis für seine Erfindung des
stochastischen Kühlens. Und wie war er darauf gekommen? "A stochastic cooling system
resembles Maxwell's demon, which is supposed to reduce the entropy of a gas by going
through a very similar routine, violating the second law of thermodynamics in the process.
It has been shown by Szilard that the measurement performed by the demon implies an
entropy increase that compensates any reduction of entropy in the gas.“
Der Algorithmus ist so genial wie einfach: (1) Erzeuge normalverteitle Zufallszahlen r_i
mit Mittelwert r_1 = 0 und Standabweichung sig_1 = 1! (2) Berechne ihren Mittelwert r_2!
(3) Subtrahiere von jedem Wert die Mittelwerts-Abweichung! (4) Berechne Standabweichung
sig_2! (5) Setze sig_1 = sig_2 und fahre fort bei (1)! Simon nun war es mit seinem Team am
CERN gelungen, den Antiprotonenstrahl durch eine Realisierung des stochastischen Kühlens
für die Experimente hinreichend intensiv zu generieren, so dass die W/Z-Bosonen der
schwachen WW nachgewiesen werden konnten.
Ideen sind ein „Geistiges“ (in Anlehnung an
Wittgenstein – „wo kein Körper ist“), das sich in nahezu unübersehbarer Fülle materieller
Ausformungen (Idee in Form bringen) verkörpert. Diese „Brückenfunktion“ zwischen Geist und
Materie ist genuiner Ausdruck von Kreativität und damit das entscheidende
Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier.
Ideen für Gedankenexperimente, die dann auch noch algorithmisch und technisch
funktionieren, sind großartig, aber warum daraus so etwas wie einen Brückenschlag zwischen
Geist und Materie machen? Die Quarks in den Protonen und Antiprotonen ebenso wie die
W/Z-Bosonen sind Elementarteilchen mit vielerlei Eigenschaften. Hinsichtlich ihrer
Ruhemassen lassen sie sich in gleicher Weise als Materie bezeichnen. Ebenso kann ich
natürlich Gedanken (und Ideen als Gedankenblitze oder einfallende Gedanken bzw. Einfälle)
in irgendeiner Hinsicht als Geist auffassen. So einfach wie bei der Materie ist es
allerdings beim Geist nicht. Lediglich die übervereinfachende Umgangssprache suggeriert,
dass wir uns bei irgendwelchen Worten doch stets etwas denken sollen.
In der Physik ist der Abstraktor Materie nicht wesentlich, warum sollte es der Abstraktor
Geist in der Philosophie sein? In der Physik formuliere ich für ein Gedankenexperiment
einen Algorithmus und realisiere ihn technisch; denn "Technik ist reales Sein aus
Ideen durch finale Gestaltung und Bearbeitung aus naturgegebenen Beständen", wie
Dessauer sie einstmals umschrieb. Und Physik als quantitative Experimentalwissenschaft ist
die auf Mathematik und Technik basierende Wissenschaft der Physis bzw. Natur. D.h. der
„Geist" der Physik ist die Mathematik und ihre „Materie" ist die Natur - und
Naturverstehen ihre erste Aufgabe.
Traditionell wird die Philosophie in Abgrenzung zu den Natur- zu den Geisteswissenschaften
gerechnet, jedenfalls im Deutschen. Angelsachsen zählen sie im Unterschied zu Science zu
den Humanities. Insofern Philosophie keinen besonderen Gegenstand bedenkt, könnte sie als
Universalwissenschaft vom Menschen aufgefasst werden. Philosophie als reflektierende
Denkwissenschaft ist die auf Sprache und Logik basierende Wissenschaft der Kulturen bzw.
Zivilisationen. D.h. der „Geist“ der Philosophie sind Sprache und Logik, ihre „Materie“
die Kulturen - und Kulturkritik ihre erste Aufgabe.
Wieder sind wir nun im „Spannungsfeld“ zwischen
„Geist“ und Körperlichkeit (Materie) angekommen. Immer noch fehlt hier im Forum eine
konsensfähige Begrifflichkeit von „Geist“, wobei diesem Manko auch nicht mit der
Behauptung abgeholfen ist, Geistiges existiere schlichtweg nicht.
Warum muss es einen Konsens darüber geben, was mit „Geist" gemeint sein könnte?
Ebenso wie die Physik ohne „Materie“, kommt auch die Philosophie ohne „Geist“ aus. Was es
gibt sind Natur und Kultur. Reicht das nicht als Konsens? Davon ausgehend kann ich (wie
oben angedeutet) Physik treiben und Philosophieren. Du erscheinst mir in Deinem
Geisterglauben ähnlich dogmatisch wie Waldemar in seiner Geisterablehnung, nur weniger
polemisch.
Es grüßt,
Ingo