Am So., 3. März 2024 um 18:00 Uhr schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
das Induktionsproblem kann als Scheinproblem angesehen
werden, da physikalische Sätze keine Allsätze sind, sondern lediglich Existenzbehauptungen
unter Einschränkungen hinsichtlich ihres Geltungs- und Genauigkeitsbereiches.
Zunächst eine kleine Anmerkung:
Im Buch "Logik der Forschung" definiert Popper eindeutig, dass
Naturgesetze Allaussagen sind. Für ihn -- und auf diesen
Geltungsbereich beschränkte sich meine Behauptung -- ist das
Humeproblem wahrscheinlich der Ausgangspunkt der Überlegung gewesen.
Neben den miterlebten Scheitern des logischen Positivismus in der
Protokollsatzdebatte.
Darf ich fragen: Das mit den Existenzaussagen ist mir neu, könntest du
es näher ausführen?
Bei Feyerabend scheint mir das offensichtlich, bei
Kuhn hinsichtlich seiner schematisierten Übervereinfachungen.
Wenn jemand im Folge langer philosophischer Reflektion zum Ergebnis
kommt, dass so etwas wie "Wahrheit" gar nicht existiert, kann er dann
kein Intellektueller mehr sein?
Impliziert der Status des Intellektuellen also schon gewisse
inhaltliche Positionen?
Meine Lektüre der „Logik der Forschung“ liegt
allerdings Jahrzehnte zurück. In Erinnerung behalten habe ich, dass ich mich ständig
fragte, was das mit der Wissenschaftspraxis zu tun haben sollte.
Bitte schlagt mich nicht (um den alten Internetslang aufzugreifen!), aber...
Das passt ins Bild. Ich hatte bei der, bei mir ebenfalls
zurückliegenden und nur auszugsweisen, Lektüre auch das Gefühl, dass
Popper ausschließlich durch theoretische Problemstellungen motiviert
wurde.
Macht ihn das zum schlechteren Menschen? Mit Sicherheit nicht.
Ich denke auch, dass rein theoretische Probleme ein legitimes
Beschäftigungsfeld für den philosophischen oder wissenschaftlichen
Schriftsteller sind.
Die vehemente Kritik des Systemdenkens macht ihn
sympathisch. Über seine Stückwerk-Technologie der kleinen Schritte hatte ich mich schon
vor Jahrzehnten mit hjn gestritten; denn in Erwartung von Kipppunkten können viele kleine
Schritte gefährlicher sein als eine ausgebliebene Revolution.
Das ist korrekt.
Am Sa., 9. März 2024 um 21:35 Uhr schrieb Claus Zimmermann über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Der Ausgangspunkt der Diskussion war ja, dass RF am
3.3 um 9:38 geschrieben hatte, dass Popper mit der Bedingung der Falsifizierbarkeit
die Konsequenz aus Humes Induktionsproblem gezogen hätte.
Meine Behauptung (die ich inzwischen noch ausweiten würde, wovon ich
aber wegen meiner mangelnden Vertrautheit mit Quellen absehe) war die
Folgende:
I.
Hume hat das Induktionsproblem in seinem Essays aufgeworfen.
Seine Version basierte auf dem Argument, dass man sich doch vorstellen
könnte, die Sonne gehe morgen nicht mehr auf, auch wenn man weiß, dass
sie bisher immer aufging (1). Was man sich aber klar vorstellen kann,
darin ruht kein Widerspruch (2). Eine logische Schlussfolgerung ist
dadurch charakterisiert, dass die Annahme der Prämissen bei
gleichzeitiger Ablehnung der Konklusion zu einem Widerspruch führen
würde (3).
Ergo: (4) Die Annahme, dass auch morgen noch die Sonne aufgeht,
aufgrund der Tatsache, sie bisher aufgehen gesehen zu haben, hat nicht
den Charakter einer logischen Schlussfolgerung.
Diese Argumentation ist insofern problematisch als dass man die
Prämisse (2) als Psychologismus bestreiten könnte. Man kann behaupten,
dass man sich sehr wohl etwas klar vorstellen könnte, auch wenn darin
ein Widerspruch sein sollte.
Die Sache mit dem Psychologismus ist für mich hier wichtig, daher hebe
ich es hervor.
Die Prämisse (1) scheint mir unbestreitbar zu sein, die Prämisse (3)
deckt sich weitgehend mit der Definition der Implikation in der
modernen Logik und insbesondere der Modelltheorie. Jedes Modell,
welches die Prämissen erfüllt, muss auch die Konklusion erfüllen.
II.
Es bleibt die knallharte Feststellung:
Hume sollte recht behalten.
Während seit dem Altertum (Aristoteles) die Induktion als Teil der
Logik beschrieben wurde und noch heute von vielen Leuten als
Selbstverständlich so gesehen wird, ist die Induktion heute de facto
aus der Logik verschwunden.
In der modernen mathematischen Logik, ebenso wie unter den Philosophen
wird Induktion als etwas anderes betrachtet als eine logische
Schlussart, ebenso wie die "Hypothese".
Die Induktion wurde aus dem Bereich der Logik in Gebiete wie
Wahrscheinlichkeitsrechnung, Lern- und Wahrnehmungspsychologie usw.,
ja Metaphysik ausgelagert.
Es hat sich nämlich gezeigt, dass die Prämisse (2) für die
Formulierung des Hume-Problems verzichtbar ist!
Es ist nämlich auch so einsehbar, dass man aus einer endlichen Menge
von Einzelbeobachtungen nicht potenziell unendlich verallgemeinern
kann. Es könnte sein, dass die einzelnen Beobachtungen nicht
repräsentativ sind.
Jedenfalls hat eine solche Verallgemeinerung nicht den Charakter einer
LOGISCHEN SCHLUSSFOLGERUNG wie sie etwa beim Modus ponens vorliegt.
III.
Humes Lösung für das von ihn aufgeworfene Problem war eine Theorie der
Gewohnheit zu entwickeln.
Unser "Geist" (nicht im metaphysischen Sinne, sondern als das, was uns
als erkennendes Subjekt auszeichnet) habe sich an den Sonnenaufgang
gewöhnt und erwarte ihn so wieder.
Damit entfernt Hume unser gesamtes Erfahrungslernen aus dem Bereich
der klaren, logischen Schlussfolgerungen und bringt sie in ein Gebiet
von Gewöhnung und Vermutung.
Humes Theorie der Gewohnheit erinnert uns deshalb an modernen
Behaviorismus (Konditionierungsthese) und auch vage an Wittgensteins
spätes Konzept der "Lebensform".
Meines Erachtens ist dies Teil von Humes Programm, das er besonders in
der Treatise verfolgt. Und dieses Programm lautet: Die Philosophie als
Reaktion auf den Erfolg der experimentellen Naturwissenschaften auf
die Psychologie zu reduzieren.
In wie weit sein Programm erfolgreich war...
Fakt ist allerdings, dass Humes Essay diesen Psychologismus noch
andeutet und zwar in der (2) Prämisse. Für ihn war es natürlich
unproblematisch, denn er kam damit zu dem Ergebnis, zu welche er
gelangen wollte.
IV.
Die Nachwelt konnte Humes Position so nicht akzeptieren und zwar aus
zwei Gründen: (a) Da sehe viele, auch durchaus intelligente und
gebildete Menschen das Gefühl haben, dass wir sehr wohl zu
Induktionsschlüssen berechtigt sind und (b) Humes Vorschlag, dass es
sich bei der Induktion nur um eine Gewohnheit handelt, so nicht
zufriedenstellend wirkt.
Grade Naturwissenschaftler neigen dazu, das Induktionsproblem als
empirisch entschieden zu betrachten. Das ist aber theoretisch
ungültig:
Wer sich nämlich darauf beruft, dass wie aus der Vergangenheit für die
Zukunft lernen können, weil wir es in der Vergangenheit tun konnten,
der begeht einen Zirkelschluss, indem er sich auf jedes Prinzip
beruft, dessen Gültigkeit wir hier hinterfragen.
Das hindert aber viele Leute bis heute nicht daran, sich vehement auf
die Selbstverständlichkeit des Induktionsprinzips zu berufen und Hume
(und wahlweise die gesamte Philosophie) als Lächerlichkeit
darzustellen. Für diese Leute hat die Beschäftigung mit dem Problem
etwas anrüchiges, vermute ich. Die ersten Leute, die so auf Hume
reagierten, war eine gewisse Schule des Common Sense.
Der Vorwurf, Hume habe eine Art Irrationalismus Tür und Tor geöffnet,
steht im Raume.
Die erste ernsthafte Reaktion zu Hume kam durch Kant. Der postulierte
in der Kritik der Reinen Vernunft, dass Kausalität ein Teil der
transzendentalen Logik und damit eine apriorische Verstandeskategorie
sei. Erkenntnis setze gewisse "Bedingungen der Möglichkeit von
Erkenntnis" (eben jene synthetischen Aprioris, zu denen eben auch
Kausalität gehört) voraus, was im modernen Sprachgebrauch nichts
anderes ist als: Die Erkenntnis ist die hinreichende Bedingung für
gewisse Apriori, da die Apriori notwendige Bedingungen sind. Sofern
wir also überhaupt etwas erkennen, gelten die synthetischen Urteile a
priori. Falls sie nicht gelten, erkennen wir auch nichts.
(Lustigerweise, Vollständige Induktion wurde von manchen Mathematikern
offenbar ebenfalls als synthetischer Satz a priori gesehen.)
Die Lösung Kants, Induktion einfach als eigenständiges Denkprinzip zu
akzeptieren, auf das man sich dann genauso berufen kann wie auf z. B.
den Satz vom Widerspruch, war offenbar recht beliebt. Und ist es
meiner Erfahrung nach noch.
Mit dem Aufkommen der modernen Logik und dem neuen Verständnis von
Axiomen (nicht mehr als selbstevidente erste Prinzipien, sondern als
eine Art Bestandteil der "Grammatik" formaler Sprachen) wurden dann
neuen Lösungen vorgeschlagen:
Einige Philosophen versuchten eine Induktionslogik zu entwickeln, die
den Anforderungen an Strenge der modernen Logik gerecht wird.
Andere Denker versuchten das Induktionsproblem über Bayesianismus zu
lösen. Durch Zunehmende Beobachtung wird die Theorie, dass die Sonne
jeden Tag aufgeht, immer wahrscheinlicher, bis wir irgendwann von
Sicherheit reden können, da Sicherheit auch nur als Form von hoher
Wahrscheinlichkeit definiert ist.
Popper versuchte das Problem zu lösen, indem er sich ganz von der
Induktion freimachte: Tausend weiße Schwäne beweisen NICHT, dass alle
Schwäne weiß sind, aber ein einziger schwarzer Schwan beweist, dass
NICHT ALLE weiß sind.
Daher begründete er eine Philosophie des Falsifikationismus, indem es
nicht mehr darauf ankam, All-Aussagen zu beweisen, sondern sie so
scharf zu formulieren, dass eine Widerlegung durch eine
Existenzaussage möglichst einfach ist. Popper lehnte gleichzeitig
Wahrscheinlichkeit als Lösungsversuch ab und entwickelte im Anhang der
Logik der Forschung dann eine ersatzweise Wahrscheinlichkeit in Form
von "Graden der Bewährung".
Ein anderer Antwortversuch auf Hume geht von der Beobachtung aus, dass
Mathematik oder mathematische Tatsachen "unzeitlich" sind. Induktion,
der Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft, ist jedoch
zeitlich. Wenn man also feststellt, von der Vergangenheit auf die
Zukunft folgern zu können, sei keine Schlussfolgerung, dann sei das
zwar richtig, aber man vermenge verschiedene Kategorien des Seins.
Wiederum andere Denker nahmen Humes Lösungsansatz scheinbar auf und
entwickelten ihn sinnvoll weiter:
Skinners Konditionierung kann einfach verstanden werden als eine Form
der Gewöhnung, von der Hume schrieb. In die selbe Kategorie gehören
auch einige Evolutionspsychologen mit ihrer "evolutionären
Erkenntnistheorie".
Es mag zwar sein, dass das Hume-Problem diese Modelle genausowenig
inspiriert hat wie das Zeno-Paradoxon die Entwicklung der
Integralrechnung, aber dennoch "antworten" sie quasi auf die Frage.
Für mich ist damit ein erheblicher Teil der Entwicklung der modernen
Erkenntnistheorie auch eine Antwort auf das von Hume aufgeworfene
Problem der Induktion.