Am 11.02.2020 um 00:23 schrieb Karl Janssen via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Vielleicht an dieser Stelle doch nochmal eine Bemerkung zur augenblicklichen
gesellschaftlichen Spaltung, die sich einerteils abseits der von mir oben beschriebenen
„heilen Welt“ im Umkreis persönlicher Alltagsbegegnungen, andererseits jedoch dort
allgegenwärtig (vor allem in der Bindung an sog. Soziale Netze) zeigt.
Dazu erlaube ich mir einen Buchhinweis zu geben:
D. Murray:
Wahnsinn der Massen: Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften.
Nicht gerade preiswert, dieses Buch, doch es lohnt wohl, gelesen zu sein.
Als kurze Einstimmung ein kleiner Auszug aus einer Buchbesprechung (hoffe, als Abonnent
des Artikels, daraus zitieren zu dürfen):
„(Murrays) Antwort: über eine neue moralische Ordnung, die Menschen wieder kategorisiert
und in höherwertig und minderwertig einteilt. Nach Murray beruht sie auf einer neuen
Religion oder Metaphysik, deren Jünger seit dem Fall der Berliner Mauer erfolgreich
missionieren. Entwickelt wurde die Dogmatik an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten
insbesondere der angelsächsischen Akademien. ...
Murrays Darstellung ist pointiert und an angelsächsischen Verhältnissen orientiert. Aber
der amerikanische Kulturexport ist längst in Mitteleuropa angekommen. Die neue Metaphysik
ist Schwachsinn. Es geht in ihr gerade nicht um eine klassenlose Gesellschaft – im
Gegenteil. Eine Gesellschaft ohne künstliche, an letztlich arbiträren Merkmalen
festgemachte Kategorien wäre ja ganz im liberalen Sinn: Wer will, der soll. Und wer kann,
der darf. Doch eine solche Farbenblindheit unterlaufen die neomarxistischen Aktivisten mit
ihrer neuen Menschenkategorisierung. Was für sie einzig zählt, sind neue moralische
Opferklassen. Sie arbeiten im Namen der Gleichberechtigung an einer neuen
Ständegesellschaft, die streng hierarchisch aufgebaut ist.“
Solchermaßen geübte Gesellschaftskritik sollte zu denken geben, da wir hier über die
Gefahr von Religion diskutiert haben; und was Murray kritisch beleuchtet, ist nichts
anderes als die Entstehung einer neuen Religion, wiederum proklamiert von selbstgefällig
moralisierenden Pfaffen, diesmal lediglich in weltlichen Kleidern.
Hi Karl,
dem Beispiel des Rezensenten von der neomarxistischen Menschenkategorisierung folgend,
scheint mir das Buch von Murray eher polemische Phrasendrescherei als seriöse
Gesellschaftsanalyse zu sein. Da schaue ich lieber in das von Martin Voss herausgegebene
Buch „Der Klimawandel, Sozialwissenschaftliche Perspektiven“:
https://docplayer.org/6692619-Martin-voss-hrsg-der-klimawandel.html
Wirtschaftswundermythos, Wachstumsdogma, Konsumrituale und Autosymbol charakterisieren die
vorherrschende Religion. Was machte denn die neue Religion aus? Klimakrisenmythos,
Nachhaltigkeitsdogma, Genügsamkeitsrituale und Fahrradsymbol? So könnte fabulieren, wer
Wissenschaft als Mythologie, Selbstkonsistenzverfahren als Dogma, Genügsamkeit als Ritual
und das Fahrrad als so anbetungswürdig wie das Auto ansähe.
Ich dagegen sehe die neue Jugend- bzw. Zukunftsbewegung in der Tradition der Aufklärung,
die mit Wissenschaft die Religion zu entmachten trachtete. Bei den 68ern waren es die
Sozialwissenschaften, bei den 18ern (wenn wir die neue Jugendbewegung mit dem Sitzstreik
Gretas am 20.8.2018 beginnen lassen) die Naturwissenschaften. Nun waren aber schon die
68er eine Minderheit wie es die 18er gegenwärtig sind. Der Mainstream huldigt nach wie vor
dem Wirtschaftswundermythos und wird sich davon nicht so leicht abbringen lassen. Der
Anteil der Vegetarier und Autoverweigerer in der BRD dürfte deutlich unter 10% liegen.
Ich sehe also keine Spaltung unserer Gesellschaft. Womöglich wird die um des Profits
willen lediglich von den Medien herbeigeredet. In den 1970ern gab es hinsichtlich des
Parteienspektrums noch eine Spaltung zwischen etwa gleich starken Christen und Sozis.
Heute ist die Gesellschaft demgegenüber ausdifferenzierter. Es gibt Linke, Sozis, Grüne,
Liberale, Christen und Nationale. Und die neue APO ist in FfF zu sehen.
Es grüßt,
Ingo