Am 27.12.2021 um 10:17 schrieb Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Am So., 26. Dez. 2021 um 12:48 Uhr schrieb Ingo Tessmann
<tessmann(a)tu-harburg.de>de>:
es ging mir nicht um Recht und Ethik, sondern um
den Hinweis auf die Gefahr von Massenpanik, Vandalismus und Bürgerkriegen.
Ich sehe diese Gefahr im Grunde auch.
Ich würde sagen, es ist heute an der Zeit, Hobbes Leviathan noch mal
hervorzukramen, für den Philosophen.
Ich befürchte, dass Hobbes Thema - nicht seine Behandlung des Themas,
das Grundthema - so allgemein ist, dass er unfreiwillig einen
Kommentar auch über unsere heutige Zeit verfasst hat.
Hi RF,
ja, Hobbes brachte die Wirren seiner Zeit — wie den Bürgerkrieg zwischen Königstreuen und
Parlamentsgefolge -- in den Leviathan ein, aber mir liegt momentan Broch näher, der sich
selbst als Philosoph, Dichter und Mathematiker sah. In den frühen 1980ern hatte ich
erstmals „Die Schlafwandler“ gelesen, auf die sich ja der Historiker Clark wieder mit
seinen „Die Schlafwandler“ bezog. Und sind wir nicht erneut wie Schlafwandler in die
gegenwärtigen Krisen geschliddert? Die Lektüre des Brochschen Gesamtwerks wird mir vorerst
nicht möglich sein, aber vielleicht werde ich bald dazu kommen, sein letztes Werk „Die
Schuldlosen“ zu lesen.
„Broch selbst spricht in seinen Kommentaren zu den Schuldlosen von der `Anwendung
außerordentlicher Abbreviatur-Mittel und ganz besonderer Symbolkonstruktionen', die
bei der `heutigen Weltkomplexität' unverzichtbar seien, um der
`Totalitätsaufgabe' des Romans noch gerecht zu werden“, wie Löhr in ihrer Diss.
„Mythos und Mathematik“ hervorhebt und abschließend fortfährt: „Wie sich zeigte, sind in
Brochs Vorstellung von Welttotalität, die es im Roman zu erfassen gilt, Mathematik und
Mythos zwei untrennbare Komponenten, wobei der Mathematik bezüglich der übrigen
Wissenschaften eine ähnliche Stellung zukommt wie dem Mythos in der Dichtung.“ Dabei
zieht „er die Parallele zwischen Mythos und Mathematik, weil der Mythos ebenso losgelöst
vom Dichter scheint wie die Mathematik vom Mathematiker, beide sind nach Brochs Auffassung
nicht subjektiv interpretierbar, beide können lediglich als Grundelemente des Ausdrucks
genutzt werden.“
Momentan treffen ja Komplexitätsmathematiker und Verschwörungsmythologen ganz wörtlich
aufeinander. Erstere haben kürzlich Szenarien zum "Interplay between risk perception,
behaviour, and COVID-19 spread“ berechnet:
https://arxiv.org/pdf/2112.12062.pdf <https://arxiv.org/pdf/2112.12062.pdf>
Demgegenüber beginnen IMs Zeilen mit den Worten:
„ich bin nicht gebaut für diese Art von Gewaltverbrechen,
bin nicht hier um diesen Herrn zu dienen
bin gekommen um zu bleiben
werde mit den Händen schreiben
wozu mein Verstand nicht reicht“
„ Nicht gebaut" zu sein für etwas lässt auf ein Handwerk schließen, aber Menschen
werden nicht gebaut, sondern geboren und wachsen heran. Und mit dieser „Art von
Gewaltverbrechen“ kann wohl nur so etwas wie strukturelle Gewalt gemeint sein, die gerade
nicht von bestimmten Herren ausgeht. Und wer mit Händen mehr schreibt als sein Verstand
hergibt, handwerkt womöglich beim Schreiben mehr als er wahrhaben will. Dass ein
Handwerker mit Handwerksmetaphern schreibt, ist naheliegend, aber warum legst Du nicht
gleiche Maßstäbe an die Verschwörungsmythen an, IM?
IT