korr. "Plessner"
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Landkammer, Joachim über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Dienstag, 23. Juli 2024 13:58
An: philweb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>de>; Landkammer, Joachim
<joachim.landkammer(a)zu.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
Hi IT,
du: "Du scheinst den synthetischen Ansatz des meth. Konstr. grundsätzlich analytisch
missverstanden zu haben."
Dieser Vorwurf trifft mich nicht, da ich mir ja noch gar nicht die Mühe gemacht habe, den
"meth. Konstr.", insbes. den von Lorenzen, irgendwie überhaupt zu
"verstehen". Ich kenne ihn nur vom Hörensagen und von den paar Zitaten, die du
hier eingebracht hast, aber daß ich eine ausreichende Ahnung hätte, um ihn schon
ordentlich "mißverstehen" zu können, reicht das ja noch lange nicht aus.
Epistemologisch-wissenschaftstheoretisch würde ich mich, wenn überhaupt, bestenfalls auf
einen vagen Old-School-Weberianismus festlegen lassen, zu mehr reicht es bei mir sicher
nicht...
Und das genügt dann sicher auch nicht, um die Zweifel an der von dir hier umrissenen
Position besser zu argumentieren als nur durch folgenden skeptischen Einwurf: mir scheint
diese These des (erkenntnisgenetischen und daher auch erkenntnistheoretischen) Primats des
Imperativs vor dem Indikativ sehr gewagt. Ich glaube, daß man dadurch das Humanum i.S. der
doch von Anfang an wesentlichen Selbstreflexion und Selbstdistanz ("Exzentrizität bei
Plessener) nicht mehr von allem Tierischem zu unterscheiden in der Lage ist (daher kommen
natürlich bei dir auch gleich die "Affen" vor). Wer meint, daß Menschen nur
durch Imperative lernen, zeichnet ein bloßes Dompteur- und Dressur-Bild vom Menschen. Mir
scheint da viel wesentlicher und bezeichnender von Anbeginn an (also schon beim
Spracherwerb) die menschliche Fähigkeit der Negation, der Verweigerung, der (freien)
Veränderung, der Variation. Natürlich läßt man sich vorsagen und ahmt dann nach, aber doch
sofort immer mit bezeichnendem Eigenwillen (daher diese angeblich so "lustigen"
Kindersprachen und Kinderworte: in Wirklichkeit sind das Akte des frühkindlichen Protests
gegen die Welt, wie sie uns aufgezwungen wird). Poesie und Literatur greifen das dann auf
und zelebrieren das GERADE-NICHT-Nachahmungsprinzip. Der "meth.Konstr."
schmuggelt hingegen, so will mir - wie gesagt - als geistig Außenstehender scheinen, das
Normative schon immer in die "Praxis" hinein (um es dann wie der Zauberer das
Kaninchen aus dem Hut zaubern zu können) und übersieht, daß Praxen eben immer individuell,
situativ, kontingent, variabel, ephemer, inkonstant, irregulär manchmal bis zur
vollständigen Unvorhersehbarkeit sind. Damit wird dem Menschen gerade die vielleicht
einzige Möglichkeit genommen, in dieser Welt mehr zu sein als ein immer nur im Getriebe
mitlaufendes Rädchen: seine Möglichkeit, zu allem auch "Nein" sagen zu können.
(Und genau deswegen braucht es ja dann "Normen" und den zwingenden Unterschied
zwischen ihrer "Genese" und ihrer "Geltung": sie sind eben nicht
vorher schon da, sie liegen nicht "in den Praxen" verborgen, sondern sie müssen
immer erst von woanders her "erfunden" und aufgerichtet (und verteidigt und
sanktioniert) werden, weil man sich ihnen eben immer auch widersetzen kann. Weil sie
"unnatürlich" sind. Weil sie uns "überfordern". Weil sie eigentlich
niemand mag, wenn er ehrlich ist. Der "synthetische" Ansatz wirft hingegen ein
allzu naives Friede-Freude-Eierkuchen-Licht auf die Welt: "wir haben uns alle
lieb", oder á la Habermas: "wir finden durch gewalt- und machtfreier Diskussion
eine gerechte Lösung für alle Beteiligten, zu der alle zustimmen müssen(!)". Schön
wär´s, aber: niemand muß müssen. Nie, nirgendwo.) JL
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Ingo Tessmann über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>
Gesendet: Dienstag, 23. Juli 2024 10:01
An: philweb <philweb(a)lists.philo.at>
Cc: Ingo Tessmann <tessmann(a)tu-harburg.de>
Betreff: [PhilWeb] Re: Gewalt ist (k)eine Lösung?
Hi JL,
ich hatte hinsichtlich des meth. Konstr. aus einem Vortrag Lorenzens von 1989 zitiert:
„Die konstruktive Wissenschaftstheorie ist eine Theorie der Notwissenschaften, derjenigen
Wissenschaften, die zur Sicherung des Friedens ohne Armut nötig sind.“ Mit Bezug auf sein
Lehrbuch von 1987 fährt er fort: „Das Lehrbuch stellt dar, wie aus der praktischen Aufgabe
eines Friedens ohne Armut die ersten Begriffe mathematisch-technischer und
historisch-politischer Wissenschaften schrittweise gelehrt werden können. Das Buch ist -
anders ausgedrückt - eine Prinzipienlehre von Wissenschaften, die an technischer und
politischer Praxis orientiert sind: Politik für den Frieden und Technik gegen die Armut.“
Die an Praxis orientierte Prinzipienlehre ist noch keine Erkenntnistheorie, sondern
ermöglich allererst Theorie. Du scheinst den synthetischen Ansatz des meth. Konstr.
grundsätzlich analytisch missverstanden zu haben.
Auf die sprachkritische folgte die praktizistische Wende, die sich an „technischer und
politischer Praxis orientiert“. Schon Einstein hatte Wissenschaft als Verfeinerung des
Denkens des Alltags verstanden, für Lorenzen geht es weitergehender um eine
Hochstilisierung von Lebenspraxis überhaupt: „Die ersten Teile jeder Sprache müssen
empraktisch gelehrt werden, z.B. Ein-Wort-Imperative in Handlungszusammenhängen wie einer
steinzeitlichen Jagd - oder eines Ballspiels von Kindern. Ein Lehrbuch kann diese Praxis
nicht ersetzen, es kann nur an schon gelerntes Handeln erinnern: durch eine Beschreibung
des Handelns.“
Den Indikativen gehen die Imperative voran. Bevor Menschen sich beschaulichen
Betrachtungen überlassen können, müssen sie ersteinmal in Handlungszusammenhängen
Nachahmungen gefolgt sein und Aufforderungen verstanden haben. Insofern schwingt der
Kasernenhofton auch im Hörsaal nach. Krieg und Frieden scheinen eine gemeinsame Grundlage
zu haben. Der Übergang zwischen Jagd und Krieg ist ebenso fließend wie der zwischen
Lagerfeuer und Frieden.
Wiederholt hatte ich auf einen Vortrag Lorenzens von 1976 Bezug genommen:
„Wissenschaftstheorie und Politikberatung. Die gegenwärtige Ohnmacht der pädagogischen
Gewalt.“ Darin wird Politik als die Praxis der Gesetzgebung definiert, deren Ziel es sei,
die Gesetze gerechter zu machen. Dabei heiße eine Norm gerecht, „wenn sie bei
transsubjektiver Beratung die Zustimmung aller Betroffenen finden würde.“ Dem Ideal einer
geometrischen Form entsprechend habe auch die Politik ein Ideal: die Gerechtigkeit. Und
die „Überprüfung geltender Normensysteme auf in ihnen steckende Ungerechtigkeiten“ ist
eine wissenschaftliche Aufgabe“, sowohl staats- wie völkerrechtlich.
Gerechtigkeitsverhalten ist bereits bei Affen und Kleinkindern beobachtbar; dennoch fragt
sich Werner Gutmann in seiner Diss.: „Gerechtigkeit, ein westliches Projekt?"
Den Dissens zwischen uns sehe ich in Deiner eher deskriptiv-analytischen und meiner eher
präskriptiv-synthetischen Wissenschaftsauffassung. Auch dazu gibt es einen lesenswerten
Artikel Lorenzens: „Szientismus versus Dialektik“ von 1970. Darin nimmt er Bezug auf den
Positivismus- wie auf den Wertfreiheitsstreit. In der Summary heißt es: "The
discussion "scientism vs. dialectic" centers around the problem of
value-judgements since Max Weber. Scientism holds the thesis that in all scholarly
disciplines (whether politics, economics, law or the sciences) the value-free methods of
the sciences should be followed. The dialectical scholars, following Kant, Hegel and Marx
claim on the other hand the primacy of practical reason, i.e. that reason can (and should)
justify norms.“ Und: "Material norms are justifiable only by investigating the
genesis of the cultural situation in which they are applied. This leads, in a critical
reconstruction of a method of Hegel (especially in his "philosophy or right"),
to the formulation of a "dialectical" method as a spiral movement from factual
geneses to normative geneses. By this method philosophy does not prescribe any
"values" but prescribes how the cultural sciences should proceed in establishing
material norms.“
IT
Am 22.07.2024 um 19:12 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
ich finde es merkwürdig, daß du da von einem etwas kruden erkenntnistheoretischen Ansatz
auszugehen scheinst, wenn du offenbar meinst, daß man, wenn man beim Denken "vom
Krieg ausgeht", dann auch kriegerisch DENKEN muß; also daß praktisch der
Kasernenhofton dann auch in der Kriegstheorie widerhallt. Das ist, wie wenn man behaupten
würde, jede Analyse von erbaulicher Literatur sei immer nur erbaulich, jede Analyse von
Pornographie sei zwangsweise pornographisch, jede Analyse von Faschismus sei grundsätzlich
faschistisch... Aber so wie die Kulturwissenschaft schon lange das Vorurteil überwunden
hat, daß die Beschäftigung mit "populärer Kunst" (früher.
"Schundliteratur") nur populär oder populistisch oder schundhaft ausfallen kann,
so wird eine Theorie der "internationalen Beziehungen" (wie man den Oberbegriff
fassen könnte) sich von der ernsthaften, "realistischen" Beschäftigung mit dem
Krieg nicht wegducken dürfen. Und "wegducken" tut sich m.E. auch, wer da
allzuschnell an mögliche ideale Normen appelliert. Denn die "Gerechtigkeit"
bleibt ja nicht gleich "auf der Strecke", wenn wir sie NICHT als
selbstverständlichen Ausgangspunkt, sondern vielleicht eher als höchst unwahrscheinlichen,
fragwürdig-fragilen, kaum näher bestimmbaren, wenig präzisen Gesichtspunkt (als Appell,
Propaganda, strategische Finte, jedenfalls immer nur mit legitimatorischer Absicht
eingesetzt) klassifizieren, der ab und an von Kriegsparteien tatsächlich ins Spiel
gebracht wird (mit welchen je eigenen Interessen und Hintergedanken auch immer). Das IST
"Gerechtigkeit" in der Kriegsanalyse erst einmal, mehr nicht. Leider.
(Und Kant wußte das noch: er versucht es nämlich gar nicht erst realistisch-deskriptiv,
sondern versetzt sich von Anbeginn in den normativen Modus: er sagt: so MÜSSTE eine
friedliche Weltordnung aussehen, auf folgenden Vereinbarungen SOLLTE sie beruhen, folgende
sechs "Präliminartikel", folgende "Definitivartikel",
"Zusätze" usw. SOLLTEN von allen unterschrieben werden, usw. Sein Buch vom
"ewigen" (!) Frieden ist ein vollständiges Buch im Konjunktivus Irrealis, im
Wunschmodus, von Anfang bis Ende. Kann man so machen; natürlich kann man immer mal wieder
ein schönes Wunschbuch schreiben. Aber dann erklärt man nichts: vor allem nicht, warum
sich bis heute niemand daran hält.).
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