Am 19.06.2020 um 17:30 schrieb Ingo Tessmann:
Am 15.06.2020 um 16:18 schrieb Claus Zimmermann
via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at <mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Wenn das Erleben nur eine Art nebensächlicher Fassade anderer Umstände
oder Prozesse wäre, wäre es doch mal einen Versuch wert, einen Roman
zu schreiben, in dem statt menschlicher Erlebnisse ausschliesslich die
physikalischen, chemischen etc. Prozesse vorkommen, die sie ja
eigentlich ausmachen.
Hi Claus,
das scheint mir ebenso absurd wie Dir, aber mehrschichtig können wir es
vielleicht ein wenig genauer betrachten. Im Roman werden Erlebnisse
umgangssprachlich beschrieben. Der reine Text besteht nur aus
Buchstabenfolgen. Erst beim Lesen entsteht dann so etwas wie eine
mentale Simulation des Textes im phänomenalen Selbstmodell (PSM) des
Lesenden. Beim Schreiben eines Romans ist es umgekehrt und ich nehme an,
dass es bei allen Künsten so ist, egal, ob es sich um Literatur, Musik,
Malerei oder Filme handelt.
Hallo Ingo,
Man stellt sich beim Lesen etwas vor. Dabei wird das Gelesene mit
Details ergänzt und ausgemalt, die der eigenen Erfahrung und Erinnerung
entstammen, aber nicht wesentlich sind. So ist es vielleicht nicht
wesentlich, ob die Figur Sommersprossen hat (vielleicht schon, dann wird
es der Autor erwähnt haben), aber wir stellen sie uns so vor, weil sie
uns an jemanden mit Sommersprossen erinnert. Ebenso hat auch der Autor
nicht nur Worte aneinandergereiht. So ansprechen, daß unsere Vorstellung
angeregt wird, kann er uns nur von Mensch zu Mensch, indem er innere
Bilder und Vorgänge, die ihm etwas bedeuten, weil sie mit seinem Leben
zu tun haben, möglichst plastisch wiedergibt, indem er alles
unwesentliche weglässt.
Das ist meiner Meinung nach eine Spezialität der Literatur. Bei einem
Bild, Film oder Musikstück muß der Betrachter oder Hörer nichts
hinzufügen, sondern nur wahrnehmen und mitgehen.
Jetzt ist natürlich die Frage, wie unser Hirn
eigentlich das PSM
generiert, in dem ständig die Simulationen unserer (inneren und äußeren)
Umgebung ablaufen und uns in Gedanken und Gefühlen erscheinen. Die
Umsetzung eines Textes in eine mentale Simulation ähnelt ja einer
Literaturverfilmung. Bei der wird der Roman in ein Drehbuch umgewandelt,
nach dem der Regisseur dann den Film herstellt.
Warum sich der eine die Figur mit Sommersprossen vorstellt, der andere
nicht, das dürfte mit den persönlichen Erfahrungen des Lesers
zusammenhängen. Das wäre keine empirische Korrelation zwischen konkreter
Vorstellung und Erfahrungsrepertoire. Es ist ja keine
Erfahrungstatsache, daß man nicht mehr und nichts anderes aus einer
Vorratskammer herausholen kann als sich in ihr befindet. Ein
Erfahrungszusammenhang bestünde zwischen Gehirnvorgängen und
Vorstellungen. Oder man könnte herausfinden, daß 67 Prozent der
Menschheit es lustig finden, wenn jemand auf einer Banane ausrutscht.
Weiter frage ich mich, ob eine Romanverfilmung nicht auch so
automatisiert ablaufen könnte wie jeweils in unseren Hirnen? Das wäre
die Herausforderung für eine künstliche Intelligenz (KI), die auch
künstliche Emotionalität (KE) aufweisen müsste. Könnten ähnlich wie bei
Musik und Malerei nach dem Auswerten der Korrelationen zwischen Romanen
und Drehbüchern sowie Drehbüchern und Filmen automatisiert zumindest
Animationen hergestellt werden?
Und so wie Groschenromane und Computerspiele schon lange nach
standardisierten Grundmustern generiert und zur Abwandlung dann
lediglich randomisiert werden, werden auch Romane und Filme wohl noch in
diesem Jahrhundert automatisiert so generiert werden können, wie es
unsere Gehirne bereits seit Jahrhunderttausenden können. Ob
menschengemacht oder robotergeneriert, neben dem Unterhaltungswert der
Spielereien machen die jeweiligen Simulationen Sinn, indem sie
Gedankenräume ausprobieren und das Probefühlen ermöglichen.
Groschenromane könnte man so fabrizieren. Man weiß z.B.: Figur rutscht
auf Bananenschale aus, Leser ist mehrheitlich erfreut. Aber die
umgestaltete Darstellung von Erfahrungen, die einen bewegt haben und die
deshalb auch den Leser, der ja nicht von einem anderen Stern kommt,
ansprechen können, ist etwas anderes.
Aber würden wir einem Roboter, der sich als Romanautor und Filmemacher
betätigte und daran „erfreute", Intelligenz und Emotionalität
zusprechen? Hinsichtlich des menschlichen Verhaltens in der Gesellschaft
wird die Spieltheorie schon lange eingesetzt, indem das Verhalten an
natürlichen Prinzipien ausgerichtet wird. Darüber haben Jani Anttila und
Arto Annila 2011 einen Artikel über "Natural Games" veröffentlicht:
https://arxiv.org/abs/1103.1656
Das Ergebnis zählt, nicht ob der Hersteller organisch oder anorganisch
ist. Wenn der Roboter mich wirklich trifft, glaube ich auch, daß er lebt
und ein Künstler ist. Das wäre dann allerdings ein spontanes Ereignis,
daß wir ihm nicht einprogrammieren könnten.
Um ein Künstler zu werden, müsste er menschliche oder vergleichbare
Erfahrung kennen. Die besteht nicht darin, wie eine Maschine nach Regeln
zu handeln. Die Regeln kommen dann später, indem man etwa festlegt, daß
man einen Gegenstand, der so aussieht, wie diese Gegenstände hier, als
grün bezeichnet. Man appelliert dann an ein Verständnis, das nicht
Regeln folgt, aber natürlich alles andere als willkürlich ist. Man kann
sich ja nicht aussuchen, welche Farbe etwas hat, das man sieht. Wie
sollte man das also dem Computer in Form einer wenn-dann-Regel
einprogrammieren? Natürlich kann man ihn wie auch einen Blinden mit
einem Sensor ausstatten. Aber das heißt nicht, daß er sieht. Der
Unterschied besteht darin, daß der Sensor den Computer oder Roboter
unter einer bestimmten Voraussetzung zu einer bestimmten Aktion
veranlasst. Eine Messung findet statt, die Aktion wird ergebnisabhängig
ausgelöst oder nicht. Aber was ist die Voraussetzung für eine
Farbunterscheidung? Da kann man nur sagen "das siehst du doch" und wenn
das nicht verstanden wird, ist man mit seinem Latein am Ende.
Der Computer wird auch das Geheimnis des Witzes nicht dadurch
enträtseln, daß er anhand möglichst vieler Fälle untersucht, worüber
Menschen lachen, auch wenn er dann mit zunehmender Trefferquote Humor
simulieren könnte.
Man könnte allenfalls versuchen, die menschliche Physiologie möglichst
genau nachzubilden und dann darauf hoffen, daß gleiche Ursachen gleiche
Wirkungen hervorbringen.
Grüsse, Claus
Und wie beispielsweise der Neid zur Schichtenbildung in der Gesellschaft
beitragen kann, hat Claudius Gros gerade anhand eines
verhaltensökonomischen Modells simuliert: "Self-induced class
stratification in competitive societies of agents: Nash stability in the
presence of envy":
https://royalsocietypublishing.org/doi/pdf/10.1098/rsos.200411
Mit technischen Simulationen wird noch nicht die physiologische Basis
der Hirnvorgänge erreicht, aber das ist auch nicht hinsichtlich der
physikalischen Basis der Computer der Fall. Wie weit bestimmt die
Hardware die Software und wie weit bestimmt die Hirnphysiologie das PSM?
Könnten sich nicht dennoch Roboter-PSM und Menschen-PSM sehr ähnlich
werden? Blieben gewachsene Strukturen grundsätzlich inniger verbunden
als gebaute? Unterscheiden sich Organismen und Mechanismen grundsätzlich
oder nur graduell?
Es grüßt,
Ingo