Am 09.11.2023 um 11:02 schrieb Dr. Dr. Thomas Fröhlich
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Lieber Karl,
die von Dir angesprochene Frage, wie sich Geistiges (oder wie immer man es nennen mag)
beim Übergang von Hominiden zum Homo sapiens entwickelt haben mag ein paar weitere
Gedanken dazu, was unter Geist zu verstehen ist (z. B. Information), und wie sich aus
Sicht eines Vertreters der sogenannten philosophischen Anthropologie, Helmuth Plessners
diese Entwicklung vollzogen haben mag.
Hier mein Text, eher in Tagebuchform geschrieben, und übermittelt mit dem Wunsch nach
weiterer Diskussion mit allen - auch den von mir sehr geschätzten Mathematik- und
Phyisk-Affinen in dieser Runde!
Moin Thomas,
das magst Du ironisch gemeint haben, aber Deiner Tagebuchform zum „Thema Sprache /
Sprechen / Zählen / Zeichen“ im Kontext der philosophischen Anthropologie ist mir
plausibel. Letztere ist ja mit in den methodischen Konstruktivismus und -Kulturalismus
eingegangen. Zudem besteht Anschluss an den Agentiellen Realismus und die PTI of reality.
Im Detail bleibt noch viel zu tun beim Zusammendenken.
IT
Zum Thema Sprache / Sprechen / Zählen / Zeichen:
Wörter, Zeichen und Zahlen werden, wenn vernommen, verstanden und in ein jeweiliges
Verständnis eingegliedert. Im jeweiligen Verstehen ist die Perspektive des Verstehenden
stillschweigend enthalten. Eine bloße Zahl kann für den, der sie vernimmt daher ganz
anderes bedeuten, in einen ganz anderen Bezug gebracht werden als für einen anderen. Bei
Zahlen- und algebraischen Systemen ist zudem ein wechselseitiges „Verstehen“ im Sinn des
sinnhaft zueinander Passens vorausgesetzt. Das gleiche gilt für Wortsysteme: die Wörter
„verstehen“ einander, und wir greifen im eigenen Verstehen der Wortfolgen außer den
Wörtern auch deren wechselseitiges Verstehen mit auf, und betten sie nicht nur als
Einzelne, sondern auch als binnenbezogenes Geflecht in unser Verständnis ein.
So sind Wörter und Zahlen Akteure, die selbst eine Perspektive aufeinander einbringen.
Sie sind, indem sie diese Perspektive in sich enthalten und entfalten mehr als bloße
Linien, die auf bestimmte Weise angeordnet sind. Ihre Aufnahme ist mehr als aktionslose
Reproduktion, etwa als Wiederspiegelung. Auch als Aufgenommene bleiben die Wörter und
Zahlen Akteure.
Die Aktionen von Wörtern und Zahlen entspringen einem den Moment überdauernden Grund, der
- in Speicherform - ihre wieder und wieder in neuen Zusammenhängen erfolgende
Realisierung als Revitalisierung ermöglicht.
09.11.23
Semantische Systeme bestehen aus ansprechbaren Binnenkohärenzen. Ein mathematisch
formuliertes System weist die stärkste denkbare Binnenkohärenz auf. Es ist ansprechbar,
indem es von uns angesprochen und verstanden wird. Es spiegelt solche Formen des
Zusammengehens wider, die in jedwedem Kontext und in jedweder Perspektive, aus der sie
angesprochen und verstanden werden gleich und faktisch kontextunabhängig bestehen
bleiben.
Informieren bedeutet, sich wechselseitig über die mitteilbare Aspekte der
Binnenkohärenzen in Kenntnis zu setzen. Dieses Informiert-Werden, dies Kenntnisnahme
geschieht in actu, im geformten Handeln und als kohärent geformtes Handeln.
Der formbezogene, darin mitteilbare und zu vergemeinschaftende, zu verallgemeinernde
Aspekt dieses informierten und informierenden Handelns kann von uns Menschen abgehoben und
als Gesondertes bedacht werden. Als Information ist er dem jeweiligen Handeln innewohnend,
als gesonderter Fokus unseres menschlichen Handelns ist er denkendes, geistiges Handeln.
Auch dieses ist dem leiblichen Handeln innewohnend, aber wir Menschen können einen dem
Leiblichen graduell entkoppelten „Standpunkt“ einnehmen, und aus dessen Perspektive
„denken“. Diesen Standpunkt hat der Biologe und Husserl-Schüler Helmuth Plessner als
exzentrisch bezeichnet. Lebewesen seien dadurch gekennzeichnet, dass ihre stoffliche
Grenze mehr zu ihnen gehört, sie auf zusätzliche Weise ihrem binnenkohärenten Handeln
unterworfen sei, als dies bei unbelebten Systemen der Fall sei. Sie seien zentrisch
organisiert, in dem Sinn, als die Binnenkohärenz alles Vorgehen umgreifend sei – hier
passt am besten das Bild eines Kohärenz-stiftenden semantischen Zentrums. Das trifft auch
für den Menschen zu, nur ist es ihm dank besonderer Handlungsformen möglich, ein Stück
weit von der Unbedingtheit dieser Kohärenzstiftung abzuweichen, und zu ihr in ein
distanziertes Verhältnis zu treten, was wiederum die Kohärenzstiftung als solche in den
Blick geraten lässt.
Das ergibt unter anderem ein sprachlich oder algebraisch oder numerisch kategorisierendes
Denken. Dieses betrachtet Kohärenzstiftung im Einzelnen und als solche, und hebt damit den
Informations- alias Geist-Aspekt heraus, es ist „geistig“, ohne dass behauptet würde,
Kohärenzstiftung sei ein Privileg nur des Menschen. Kohärieren und damit Information und
wechselseitiges Informieren wohnt tatsächlich allem inne, das wir überhaupt als
Identisches erfassen können.