Am 02.10.2022 um 03:16 schrieb waldemar_hammel über
PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
lieber karl,
nicht so eilig,
denn mit dem unten von dir geschriebenen stimme ich doch völlig überein
(mein argument mit "hirngemachte fakten" usw hat damit doch garnichts zu tun,
da es in andere richtung zielt - missverständnis also, warum auch immer !)
Ich denke, dass hier nicht ein Missverständnis zwischen uns, sondern ein grundsätzlich
verschiedener Denkansatz zu diesem Thema gegeben ist. Die von mir zuletzt hier
vorgestellten Wahrheitstheorien sind wissenschaftlich etablierte Definitionen, die demnach
allgemein anerkannt sind, unbeschadet ihrer darauf bezogenen Kritik- bzw. Schwachpunkte,
wie diese jeder Theorie anhaften.
Somit sind zwar die genannten Wahrheitstheorien als solche anerkannt, ein absolut gültiger
Wahrheitsbegriff schlechthin, ist daraus (aus genannten Gründen) nicht abzuleiten. Soweit
wird die von Dir beteuerte Übereinstimmung reichen und man könnte die Diskussion damit zum
Ende bringen.
Doch ebenso, wie bezüglich meiner Darstellung (obgleich nur Zusammenstellung der
geläufigen Theorien) Fragen offen blieben, bleiben solche auch bezogen auf Deine
Erklärungen zum Wahrheitsbegriff, der sich insoweit von den o.a. Wahrheitstheorien
absetzt, als Du diese mit Hinweis auf grundsätzlich fallibel angelegte Inferenzbildung im
menschlichen Gehirn, quasi in sich zusammenstürzen lässt:
wh: „autopoiesen sind die bilder und "filme" in unseren köpfen von einer uns
völlig unbekannt bleibenden "wirklichen wirklichkeit" außerhalb der reichweite
unserer selbstreferenz = unsere auch erweiterten immunsysteme, deshalb können auch lügen
innerhalb dieser autopoiesen wahrheiten werden und/oder sein, wenn solchen weitere
korrektive inputs von außen fehlen, oder wenn uns selbst innerhalb der autopoiesen keine
logik-verwerfungen, oder "bauchgefühle", oder "kognitive dissonanzen"
als möglichekorrektiva zur verfügung stehen - allzu oft genügt schon ein genügendes
wiederholen von lügen oder halbwahrheiten, um unser autopoietisches system auszutricksen,
und lügen in uns als wahrheiten zu verankern,….“
So kann ich nur mit Claus die Frage stellen, wovon Du redest bzw. was Du hier bezogen auf
ein jeweils eindeutiges WAHR/FALSCH zum Ausdruck bringen willst.
Wenn Du a priori die Befähigung des Menschen zu rationaler Wahrnehmung und gedanklicher
Verarbeitung von Sachverhalten bezogen auf ihre Faktizität (eben zufolge potentiell
fehlerhafter Perzeption etc.) in Abrede stellst, schließt sich tatsächlich ein nicht
aufzulösender Kreis, wodurch sich eine Person quasi in Selbstreferenz gefangen hält.
Das sind dann keine „Logik-Verwerfungen“ mehr, sondern schlichtweg die hier oft von Dir
beschriebenen psychopathischen Einbrüche als menschliche Tragödien und diese haben
wahrhaftig nichts mehr mit „wirklicher Wirklichkeit“, eher doch mit tragischer
Wirklichkeit zu tun. Dieses im eigenen Denken gefangen sein, bringt Claus durch einen
einzigen Satz zum Ausdruck: „ Lüge ist natürlich das Gegenteil von Wahrheit. Aber man kann
sich etwas vormachen und irgendwann selbst daran glauben.“
Diesem „sich selbst etwas vormachen“ wird wohl kaum ein Mensch entkommen, schließlich hat
das Verhalten auch einen sehr lebenstauglichen Aspekt, der jedoch seine positive Wirkung
verliert, wenn ein bestimmtes Maß an Selbsttäuschung überschritten wird. Damit wären wir
mitten in der (Tiefen-)Psychologie angelangt und ich wollte eigentlich nochmal auf einen
wirklich lebenspraktischen Gebrauch des Wahrheitsbegriffs zurückkommen:
Diesen leite ich nun – wie gewöhnlich - nicht abstrakt von Denkkonstrukten der
Philosophie, sondern aus meiner beruflichen Praxis ab. Meine erste Beschäftigung mit
Wahrheitstabellen in der Digitaltechnik waren die Mechanismen zur Minimierung von
Schaltkreis-Logik mittels „Karnaugh-Veitch-Symmetrie-Diagramm“. Diese und weitere wirklich
auch komplexe Methoden zum Entwurf von Digitaltechnik muss ich hier nicht weiter erklären,
sondern mich lediglich auf wenige Grundmuster einer Wahrheitstabelle beziehen:
Ein logisches UND-Glied arbeitet nach dem Schema: WAHR UND WAHR ergibt WAHR resp. WAHR UND
FALSCH ergibt FALSCH. Technisch ausgedrückt mit der Konjunktion: A ∧ B, wobei diese WAHR
ist, wenn sowohl A als auch B WAHR sind.
Aus diesem technischen Zusammenhang lässt sich für die Betrachtung von Wahrheit folgendes
ableiten: Ob bei benannter Konjunktion A bzw. B wahr oder falsch ist, ist in der Technik
keine Frage irgendwelcher schwammiger Definitionen oder ideeller Annahmen, sondern
schlichtweg das eindeutige Vorhandensein eines elektrischen Zustandes (1 oder 0 z.B. 5V
oder Masse, wobei dieser Bereich jeweils innerhalb eines definierten Schwellenwerts)
liegen muss. Das lässt (um doch wieder die Philosophie zu bemühen) an Aristoteles'
Definition denken: „ Das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht ist wahr“ und somit
„die Sätze sind entsprechend wahr, wie es die Dinge sind“.
Es ist unerheblich, ob man nun eine Konjunktion, Disjunktion oder Implikation zum Beispiel
nimmt, immer müssen die Eingangsgrößen verlässlich in den vorgegebenen
Schwellwertbereichen liegen und somit eindeutig entweder WAHR oder FALSCH sein. Nur dann
ist eine datentechnische Verarbeitung von Information möglich und diese ist nur dann
sichergestellt, wenn die technischen Voraussetzungen ebenso gewährleistet sind, was sich
eindeutig durch Messungen und entsprechend technische Mittel bereitstellen lässt.
Bezogen auf WAHR und FALSCH als vertrauenswürdiges Kriterium zur Bewertung von Aussagen im
gesellschaftlichen Dialog, also unsere diesbezügliche Diskussion betreffend, ist die
Sachlage anders; hier ist eben nicht prinzipiell „messbar“, ob eine Aussage (Proposition)
Wahr oder Falsch ist, unabhängig davon, ob das Faktum (der Wahrmacher) wirklich einer
Tatsache entspricht.
Was nicht messbar und damit nicht objektivierbar ist, unterliegt immer der Möglichkeit
einer Falschaussage (ob bewusst als Lüge oder aus Unvermögen getätigt). Somit kann eine
Aussage letztlich nur geglaubt werden und das setzt Vertrauen in eine Person oder
Institution resp. deren Verlässlichkeit voraus, die diese Aussage tätigt. Das entspricht
dem unumgänglichen Schwachpunkt aller Wahrheitstheorien und damit der Unsicherheit resp.
Unzuverlässigkeit jeder Bewertung von Aussagen.
Daher sind Verlässlichkeit, Vertrauen und Glaubwürdigkeit unumgängliche Voraussetzungen
für das Funktionieren jeder Art zwischenmenschlicher Beziehung, sei es in Zweisamkeit oder
gesellschaftlichen Kollektiven.
Verlässlichkeit also, Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Umgang zwischen Menschen sind
Werte, die definitiv an die Ideale eines Platon gebunden sind, da sie nunmal nicht
messtechnisch validiert werden und somit sichergestellt werden können. Eine Parallele zur
Technik lässt sich dennoch zeigen: Ebenso wie die Funktion einer technischen Konstruktion
die Verlässlichkeit deren Einzelkomponenten voraussetzt, ist Verlässlichkeit auch im
sozialen Zusammenwirken der Menschen unbedingte Voraussetzung für das Funktionieren einer
Gesellschaft. Hier kann kein Bezug auf „alternative Faktenlagen“ genommen werden. Für den
klassisch philosophischen Wahrheitsbegriff ist das Bewusstsein entscheidend, dass
wirkliches Wissen um die „Wahrheit“ nur mit dem Bemühen um weiteren Erkenntnisgewinn im
Sinne von Wirklichkeit (also erkennen, was wirklich und eben nicht nur „wahrgemacht“ ist)
erworben werden kann. Das wollte Aristoteles womöglich mit folgender Aussage deutlich
machen:
„Der ignorante Mensch verkündet, der weise hinterfragt und reflektiert“ (sinngemäß).
Bester Gruß! - Karl