Am 17.11.2020 um 10:14 schrieb waldemar_hammel via Philweb:
[Philweb]
Wh: „zum "großen" thomas von aquin,
(quelle wikipedia)
zb Thomas' Anthropologie: ...“
Nun ja, lieber Waldemar, für Dich ist der Thomas v Aquin also kein
„Großer“, für viele andere (Andersdenkende) war er es; z.B. Edith Stein
(als Schülerin Husserls eine der zu dieser Zeit noch wenigen weiblichen
Größen der Philosophie, wie auch Hannah Arendt. Edith Stein - der man
die Habilitation wegen ihres Geschlechts versagte! - und die just von
jenen ermordet wurde, deren Anführer offensichtlich von einem Gott
zugelassen wurde, der Dir den Dreck Deiner Stiefel nicht wert ist.
Wh: „ein gott, der einen hitler ermöglicht hat, wäre den dreck an meinen
stiefeln nicht wert, dass ich ihn anbeten sollte ...“
Epikurs Theodizee lässt (nicht nur) Christenmenschen erschaudern und in
ernsthafte Zweifel bzgl. der absoluten Integrität stürzen, die man
einem allmächtigen Gott zuschreibt.
Aber genau von diesem Gott war Edith Stein überzeugt, wie ebenso von
Thomas v. Aquin, deshalb sie seine Schrift „de ente et essentia“ in‘s
Deutsche übersetzt hat („Über das Seiende und das Wesen“). Als ich darin
las, merkte ich, wie sehr wir uns mittlerweile von dieser „Sprach- und
Denkform“ entfernt haben. Ich habe mir eben das Büchlein hergeholt,
schlage auf und stoße auf diese Passage:
(41) Und so finden sich nach jener Form, die in der Seele ist, andere
Formen, die mehr Potentialität in sich haben und der Materie noch näher
stehen, sodass ihr Sein nicht ohne Materie ist. Auch unter ihnen findet
sich eine Stufenanordnung, bis zu den ersten Formen der Elemente, die
der Materie am nächsten stehen. Darum haben sie kein anderes Wirken als
entsprechend dem Erfordernis aktiver und passiver und sonstiger
Qualität, wodurch die Materie für die Form bereit gemacht wird. (Aquinus
übersetzt von E. Stein)
Wer kann das heutzutage (zumindest auf Anhieb) verstehen? Um Verständnis
und Interpretation wird man allenfalls in theologisch-philosophischen
Lehrveranstaltungen, wie auch mancher Christenmensch im „stillen
Kämmerlein“ (entspr. Bildungsstand vorausgesetzt) bemüht sein. Bringt
uns solches Unterfangen weiter? Insoweit hat Ingo T. treffend
kritisiert, wenn er von historischem Ballast im
geisteswissenschaftlichen Lehrgebäude spricht; mich lässt es an diese
aberwitzigen Dispute eben zur „Hochzeit“ der Scholastik denken. Wir
brauchen heute einen anderen (dem aktuellen Bildungsstand angemessenen)
Zugang in diese intelligible (Gedanken-)Welt; sofern man sich überhaupt
in diese begeben will! Letzteres jedoch (in kritikastischer Absicht) zu
tun, ohne die grundsätzliche Bedeutung und Validität dieser Schriften
(insbes. im Kontext der historischen Gegebenheiten) zu berücksichtigen,
entzieht jeder weiteren gemeinsamen Betrachtung die Basis.
Meiner Ansicht nach lässt sich eigentlich nicht bestreiten, dass Aquins
Schriften zu damaliger Zeit revolutionären Einfluss auf eine überkommene
orthodoxe Glaubensdoktrin genommen hat (unbenommen der Tatsache, dass
man darauf gründend geradewegs wieder dogmatisch fixierte Lehrmeinungen
geschaffen hat).
Vor einiger Zeit hatte ich mich hier schon auf die Participatio-Lehre
des Thomas von Aquin bezogen und finde immer noch Gefallen an der
Vorstellung von einer Potenzialität der Materie, jenem "Meer der
Möglichkeiten", aus dem ich (als an dieser "göttlichen Idee"
partizipierendes Wesen) im Sinne dieses „de potentia et actu“ konkrete
Dinge schaffen, also meine Lebenswelt gestalten kann.
Wenn man also Thomas von Aquin kleinreden will, muss man damit schon bei
Aristoteles beginnen. Auf ihn bezieht sich der Aquinus: Admirabilis
transitus a potentia ad actum (Wir hatten hier unter dem Betreff
aktuale/potentielle Unendlichkeit darüber geschrieben). Aber letztlich
ist und bleibt das alles akademische „Spiegelfechterei“, sofern man in
diese Gedankenwelt aus der Alltagswelt-Perspektive einzudringen
versucht: Dann ist es im Kern nichts anderes als brotlose Scholastik,
die dem Kampf im Hamsterrad des realen Lebensumfelds entgegensteht. So
bleibt wiederum die Frage: cui bono?
Platon (mit seiner Ideenwelt) kam ebenso in Ungnade hier:
Wh: „ es ist mir rätselhaft, wieso immer noch platons ideenlehre derart
hochgehängt wird ...was hat der mann gemacht?
er hat aus der tatsache, dass es zb vielerlei unterschiedliche blumen
gibt (rosen, astern, usw), und deshalb ein ein sammelwort dafür "die
blume/eine blume" (das ist reine sprachökonomie),eine eigene
-irrtümliche- philosophie gemacht, in der behauptet wird, "die blume als
sammelwort" wäre primordiale grundlage für "alle unterschiedlichen
blumen", "göttliche ideen" usw, und damit letztlich das supremat "der
form" über "ihre teile" behauptet ... (an dem wir noch heute leiden,
"das ganze mehr als seine teile",damit "emergenzen",
"imergenzen", usw)
Das zu beantworten, fange ich mit Letztem an:
Mir ist rätselhaft, warum wir unter dem Phänomen der Emergenz leiden
sollten?!
Emergenz ist doch geradezu Ausdruck eines individuell (aber auch
intersubjektiv) empfundenen Ganzheits-Erlebens. Damit meine ich
definitiv nicht dieses esoterische Faseln, alles sei eins, wir seien
alle eins, und das Ganze sei mehr als seine Teile (als fälschlich
interpretierte Tatsache)!
Ich hatte kürzlich Tegmarks (m.E. sehr anschauliches) Beispiel für
Emergenz beschrieben, wonach wir unmöglich aus dem Anschauen (oder gar
einem Erleben wollen) einzelner H2O-Moleküle das Empfinden von Wasser
(etwa von wohltuend empfundener Nässe im Bad) entwickeln können.
Emergenz eines „Systems“ lässt sich eben nicht durch Aufsummieren oder
diskrete Betrachtung seiner Einzelteile beschreiben, Emergenz ist
(ideell) mehr als deren Summe. Emergenz ist Ausdruck (des Erlebens) von
Eigenschaften, wie er sich aus der Summe der Einzelteile eines Ganzen
und deren (intrinsischer wie auch extrinsischer) Interaktion
entwickelt. Somit entzieht sich Emergenz pur physikalischer
Beschreibungsmöglichkeit, was offenbar Dein Problem ist, Waldemar,
soweit Du immer wieder aufs Neue Deine Maßstäbe zur Erklärung der Welt
ausschließlich darauf anlegst.
Unter diesem Gesichtspunkt kann man denn auch Platon nicht verstehen!
Nimmt man beispielsweise einen Holzstuhl und betrachtet ihn
ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner Einzelteile, so hat man
Stuhlbeine, -lehne, Sitzfläche. Holzteile also, die sich i.w. aus etwa
50% Cellulose, 20% Hemicellulose und 30% Lignin zusammensetzen (das in
Elementarteilchen und Plancklängen auszudrücken, bist Du Fachmann,
Waldemar :-)
Diese Holzstücke haben doch selbstredend nichts mit der Idee eines
Stuhls zu tun, die jenen frühen Menschen der Jungsteinzeit gekommen sein
mag, das unbequeme Sitzen auf Boden, Felsbrocken, oder Baumstämmen auf
erste hockerähnliche Gebilde zu verlagern; dass dann der Stuhl als
heutige Kulturerrungenschaft erst vor vierhundert Jahren Einzug fand,
sollte nicht der beispielgebenden Erkenntnis im Wege stehen, dass ein
paar Holzteile nicht für die geniale „Stuhl-Idee“ stehen, sondern eben
die Idee an sich (die den Stuhl, Stuhl werden lässt).
Den ersten „Stuhlbauern“ könnte im weiteren Verlauf empirischer
Fortentwicklung aufgefallen sein, dass ein Dreibein höhere statische
Stabilität hat als ein Vierbein hat. Ob sie über Kenntnisse der
Geometrie verfügten, weiß ich nicht zu sagen. Platon hatte diese
nachweislich.
Platons Ideenlehre entspringt eben nicht metaphysischen Hirngespinsten,
sondern sie gründet auf Mathematik. In seinem Umfeld galt er als
Mathematiker und in seiner Suche nach Urgründen bezog er Kenntnisse über
Geometrie ein, da er Mathematik an sich (als Ausdruck ursächlicher
Ideen) eine unveränderliche, ewige Gültigkeit zuschrieb. Die von ihm
darauf bezogene (irdische) Gegenständlichkeit (Dinglichkeit) entspringt
in ihrer Kreativität (als Ideen von Menschen) immer auf‘s Neue dieser
Ideenwelt, die eben keiner Veränderung, keinem Werden und Vergehen
unterliegt.
Insofern stehen diese formgebenden Ur-Ideen (gr. idea, eidos) zurecht
als Supremat über der Dinglichkeit und sind als urbildhaftes Prinzip in
ihrem Sein unabhängig von gegenständlichen Einzeldingen. Platons
Ideenwelt transzendiert demnach unsere Lebenswelt und steht für ein
vollkommen geordnetes Ganzes, das weder dem Zufall noch einer
Veränderung unterworfen ist.
Ob man sich nun dieser „klassisch-philosophischen“ Sichtweise
anschließen will/kann, sollte schließlich jedem selbst überlassen sein.
An der spezifischen Aussagekraft der Platon‘schen Ideenlehre ändert das
nichts, denn letztlich werden sich Menschen je nach ihrer Sichtweise
entweder dafür oder dagegen aussprechen. Für mein Teil bin ich darauf
bedacht, mich nicht in diesen Gefilden zu verfangen; schier uferlose
Interpretationen zu Platons Philosophie kümmern mich nicht.
Ein wertvoller Impuls daraus stützt jedoch meine Annahme, dass
potentiell eine Verbindung zwischen dieser von Platon beschriebenen
Ideenwelt als Teil einer (längst nicht nur von ihm angenommenen)
intelligiblen Welt und der Lebenswelt (Sinnenwelt) besteht. Wer nun
fragt, wo denn diese intelligible Welt in den kosmischen Tiefen
„verortet“ ist, bezeugt damit ein irgendwie noch immer zutiefst im
Menschen verankertes geozentrisches Weltbild (oben Himmel - unten Erde).
„Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah“ möchte
man dann sagen. Durchaus noch bildlich spricht die Thora des Judentums
von „sieben Himmeln“. Erde und physisches Universum sind für den
Menschen sichtbar bzw. körperlich erlebbar, die weiteren „Himmel“ sind
spiritueller Art und der Sicht des Menschen (aber nicht seinem geistigen
Zugang zu diesen) entzogen. Das ist m.E. eine recht brauchbare
Darstellung und allemal besser als die plump christliche Vorstellung von
Himmel und Erde.
Dahin wollte ich jedoch nicht abschweifen, sondern diese Begrifflichkeit
von intelligibler Welt einer ideal-übersinnlichen, übersubjektiven,
zeitlosen Substanz von höherer Gefasstheit zuschreiben (wenn sie sich
denn überhaupt beschreiben lässt). Man sollte wohl nicht von Welten
sondern eher von Dimensionen oder Ebenen sprechen.
Und klar, das musste kommen: Für mich sind das verschränkte Ebenen.
Die „Ebene“ der Ideenwelt (Teil der intelligiblen Welt) birgt in sich
nicht isoliert gedankliche Abstrahierungen (Ideen) sondern steht in
dialektischer Verbindung mit der „Ebene“ der gegenständlichen Seinswelt,
also unserer realen Lebenswelt. Beide Ebenen bedingen und ergänzen sich.
Das ewig seiende, ideal wesenhafte Sein der intelligiblen Welt begründet
sich aus ihrer ontischen Überlegenheit aus der heraus sie „Ideengeber“
(technisch gesehen „Taktgeber“) für die defizitäre Welt des
Vergänglichen ist. Letztere versucht sich im ständigen Werden-Prozess
auf das ideale Sein hin zu entwickeln;
Ist‘s vergebliche Mühe, gleich dem Schicksal des Sisyphos?
Nun kommt Waldemars Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies vor
Augen oder eben das ewige Rad des Werdens.
Mit bestem Gruß an Dich und in die Runde! - Karl