Am 10.03.2021 um 09:50 schrieb Dr. Dr. Thomas Fröhlich
<dr.thomas.froehlich(a)t-online.de>de>:
Der algebraische Zugang ist dabei umfassender als der mit Zahlen operierende, und der
sprachliche Umgang ist der umfassendste, der uns zur Verfügung steht, weil er nicht nur
die Quantitäten identifizierbarer Qualitäten, sondern auch diese Qualitäten zu benennen /
zu identifizieren / in einen (zunächst sprachlichen) Kontext einzubetten vermag.
Hi Thomas,
das ist wohl der Hauptdissens zwischen uns, ich halte die Umgangssprache nur für einen
winzig kleinen Anhängsel mathematischer Strukturen. Das zeigt sich bspw. darin, wie
einfach es ist, statistisch-algorithmisch nicht nur Syntaxen, sondern auch Semantiken
vieler gängiger Sprachen im Internet aus gescannten Texten zu generieren. Sind es
hinreichend viele Texte, können dann wiederum beliebig viele weitere Texte automatisiert
geschrieben werden. Du hältst Qualitäten für benannt, ich halte sie für erfunden. Solange
wir aber keine allgemeine Sprachtheorie haben, die allen verbalen und schriftlichen
Äußerungen der Menschen gerecht wird, bleiben unsere Meinungen Hypothesen.
Vielleicht helfen die Beispiele etwas weiter, die ich nannte und auf die Du nicht
eingingst. Oersteds Entdeckung (die bspw. zur Zitterbewegung führte) und Virginia Woolfs
Roman "Die Wellen“ (aus dem eine kosmologische Prozessphilosophie gewonnen werden
könnte). Ich gehe von allumfassenden Quantitäten aus, aus denen wir, wie in der
Psychophysik anteilig expliziert, erst nachträglich durch Schwellenwert- und
Differenzbildungen Qualitäten zu benennen vermögen. Primär ist der Wandel, die Bewegung.
Deshalb halte ich eine Prozessphilosophie für äußerst sinnvoll, leider ist mir aber noch
keine bekannt geworden, die den Namen verdient. Und das liegt natürlich hauptsächlich an
der immer schon verdinglichenden Sprache, die wir zu überwinden haben. Bevor wir
Qualitäten meinen benennen zu können, haben wir zu klären, woraus sie überhaupt wie
hervorgegangen sind (historisch-faktische und analytisch-empirische Genese); denn primär
ist das vielfältige Prozessieren und nicht der bloß benannte Prozess.
Aber zurück zu den Beispielen. Wenn ich mehr Zeit darauf verwenden könnte, hätte ich mich
längst schon in zwei ausführlichen Texten zu Oersted und Woolf verständlicher zu machen
versucht. Also was lässt sich rein sprachlich aus der Beobachtung der bewegten Magnetnadel
infolge veränderter Elektrizität für eine Prozessphilosophie daraus machen? Ähnlich
verhält es sich für mich bei Virginia Woolf, der es darum ging, einige Stücke ihrer
Bewusstseinsströme wie Wellen in einen Roman aufgehen zu lassen. Aus ihren Erinnerungen an
Urlaubstagen am Meer heraus wählt sie den Rhythmus der Brandungswellen am Strand als
Auftakt und Fortführung. Die Wellenbewegungen durchziehen fortan den ganzen Roman,
modulieren ihren Sprachrhythmus und loten das Auf und Ab sowie Hin und Her während der
Selbsterhaltung in den menschlichen Beziehungen eines ganzen Lebens aus.
Wenn ein Text einer Prozessphilosophie nahe zu kommen vermag, dann ist es Woolfs „Die
Wellen“. Das Buch ist in neun unbenannte Kapitel unterteilt, die jeweils mit einer
Strandszene am Meer anheben. Der Rhythmus der Natur, ihre Lichtspiele, Windfahnen und
Brandungswellen modulieren auch die Stimmungen der sie erlebenden Person, des jeweils
gleichsam in Resonanz mitschwingenden Ichs. Virginias Selbstreflexionen ihrer
künstlerischen Empfindsamkeit machen das Buch zu einem intellektuellen wie sinnlichen
Leseabenteuer, in dem sich einem auch die eigenen Visionen der vielen Selbstanteile
erschließen, die im menschlichen Bewusstsein wohnen: Jede lebt in ihrer Welt, aber alle
Welten sind nur eine Welt. Ein Tag im Herbst am Strand umhüllt mit seinen Wellenschlägen
und Lichtgeflimmer gleichsam die ganze Lebensspanne eines Menschen von der Kindheit bis
ins Alter. … Bevor ich mich weiter in Schwärmerei ergehe, breche ich lieber ab,
IT