Wir sind also schuldig nicht nur, weil wir tun, was wir tun, sondern schon, weil wir sind,
was wir sind, obwohl wir uns das nicht ausgesucht haben. Das ist ja noch trostloser, als
es in der Bibel dargestellt wird. Adam und Eva waren doch unschuldig, oder? (Ich bin kein
Theologe.) Dann übertraten sie ein Verbot. Aufgrund dieser Handlung, nicht aufgrund ihrer
Beschaffenheit wurden sie aus dem Paradies ausgeschlossen. Der Schöpfer kam nicht auf die
doch absurde Idee, ihnen vorzuhalten, daß und wie er sie aus dem Lehmklumpen und der Rippe
erschaffen hatte, sondern der Vorwurf lautete, daß sie die Nabelschnur durchtrennt hätten
und diesen Weg, auf sich selbst gestellt, jetzt auch zu Ende gehen sollten.
Gibt es unter Katholiken nicht auch andere Intuitionen als die eines schlechten Gewissens,
das einen doch vergiften muss, wenn man es nicht loswerden kann, indem man sich ändert?
Ich bin kein Katholik, kann aber sagen, daß es in meinem Bekanntenkreis einen Fall einer
anderen Intuition gibt.
Claus
Am 22. Aug. 2019, 09:04, um 09:04, "Landkammer, Joachim via Philweb"
<philweb(a)lists.philo.at> schrieb:
[Philweb]
Lieber Claus,
ich versuche, auf einiges zu reagieren:
- "Ich kann nichts dafür" ist wohl einer der gleichzeitig
unglücklichsten und falschesten Sätze überhaupt. Jeder kann immer etwas
"dafür". Das ist eben das (eben vielleicht nicht nur theologisch
sinnvolle) Theorem der "Urschuld", der grundsätzlichen Verdorbenheit
der menschlich-körperlichen Existenz. Nicht daß niemand uns gefragt
hat, als wir in die Welt "geworfen" wurden (wie die Existentialisten
immer jammern), sondern daß die WELT niemand gefragt hat, ist das
Skandalon: wir werden eigentlich nicht gebraucht, wir sind nicht nur
überflüssig, sondern: wir stören. Unser reines Dasein ist per se
schuldbeladen. (Es gibt in Simmels Soziologie die These, daß
Gesellschaft nur möglich ist, weil sie mit der fundamentalen
Voraussetzung operiert, daß für jedwedes Individuum in ihr ein "Platz"
ist; das gilt eben für die menschengemachte - und historisch:
westlich-demokratische - Institution namens Gesellschaft, für die
"Natur" oder für "die Welt" gilt das nicht). Es geht also um ein
prinzipielles "schlechtes Gewissen", das gar nicht aus einer versäumten
und je wieder gutzumachenden (Nicht-)Handlung stammt. Die ganzen
philosophischen und literarischen Strömungen des Pessimismus und
Nihilismus (ich lese z.B. zur Zeit gerade Giacomo Leopardi) haben diese
urkatholische Grundintuition eigentlich übernommen - und verschärft,
indem sie den tröstenden Heilsgott daraus gestrichen haben.
- Ich weiß, daß (auch) das eine hochproblematische Vorstellung ist,
weil sie natürlich auch zur Legitimation von Gewalt und Immoral und
Quietismus herhalten kann. Gerade darum ist eben diese Ablaß-Idee
wichtig: man kann, in kleinem, nichts Wesentliches verändernden Rahmen,
doch etwas "tun", und auf gewisse, temporäre und beschränkte Weise
"Sühne" leisten. Man kann sich von seiner Grundschuld stückchenweise
und in geringem Ausmaß "freikaufen" - und das muß ja nicht nur in
monetärer Form sein, sondern etwa auch durch die eine "gute Tat" pro
Tag ("Werkgerechtigkeit" nannte Luther das abschätzig, weil er es in
seinem Eifer nicht begriffen hatte). Aber das Wichtige und spezifisch
"Katholische" daran ist eben: es gibt Minderung, Milderung,
"Nachlaß",
schon in dieser Welt, und nicht erst im Jenseits (diese ganze
Heils-Verlagerung ins Jenseits, die man dem Christentum immer so
stereotyp vorwirft, stimmt gerade für den Katholizismus NICHT! Daher ja
auch die (ebenfalls temporäre) katholische (Aus-)Gelassenheit,
Lockerheit, Feierkultur: siehe "Karneval", usw.).
- Unabhängig von der theologischen Stimmigkeit: die möglichen
Parallelen und "Anwendungen" auf das ökologische Tun und Lassen liegen
meiner Meinung nach auf der Hand. Ich plädiere daher für eine
"katholische Ökologie"...
So ungefähr denke ich das gerade.
Ciao
Joachim
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Claus Zimmermann <mail(a)clauszimmermann.de>
Gesendet: Donnerstag, 22. August 2019 02:21
An: philweb(a)lists.philo.at; Landkammer, Joachim
<joachim.landkammer(a)zu.de>
Betreff: Re: [Philweb] Die Lust am Schweigen
Schön, daß du wieder dabei bist. Aber: ich verstehe nicht, warum du
jemandem, der deiner Meinung nach nichts dafür kann, ein schlechtes
Gewissen machen willst. Das wäre doch eine Grausamkeit, die zu nichts
führen würde, denn eine Änderung des Verhaltens wäre nicht möglich. Ich
vermute also, daß du sie vielleicht zwar für unter Umständen sehr
schwierig, aber nicht unmöglich hältst und deshalb nicht gleich nicht
die Guillotine wenn auch in abgemilderter Form durch soziale Kontrolle,
sondern eine Rechnung für die verursachten Kosten angemessen findest.
Nicht vorwerfbar wäre das Verhalten z.B. bei geistigen Störungen,
unverschuldeten Rauschzuständen durch K.O.-Tropfen oder ähnlichem. Auch
im Fall von grossem äußerem Druck würden wir dem Menschen zwar keinen
Orden dafür verleihen, wenn er ihm nachgibt, aber ihn auch nicht dafür
bestrafen. Du weist auf das hin, was uns historisch, kulturell und als
Gattungswesen in den Knochen steckt. Dazu kommen die Umstände des
Einzelfalls. Es ist sicher sehr schwer, das zu überspringen. So finde
ich es angemessen, nicht gleich "Kopf ab" zu rufen, wenn das nicht
geschafft wird, aber die Kosten, nicht als Schikane, sondern so, wie
sie anfallen, in Rechnung zu stellen. Auch das schlechte Gewissen wäre
dann nicht sinnlos und selbstzerstörerisch.
Das steht alles unter der Prämisse, daß es wirklich so kritisch ist,
wie die Mehrheit der Experten sagt und was ja auch mit
Alltagserfahrungen übereinstimmt. Interessengeleitete Stimmen gibt es
vermutlich auf allen Seiten. Eigentlich müsste man dann versuchen, der
Sache selbst auf den Grund zu gehen. Aber ich fürchte, das übersteigt
meine Möglichkeiten.
Übrigens sagt Niko Paech nicht, daß verzichten immer nur die anderen
sollen, sondern daß man von anderen nicht mehr verlangen soll als von
sich selbst. Aber es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich
vorzustellen, wie verschärfte soziale Kontrolle in der Praxis aussehen
und wer dabei gewinnen und verlieren würde.
Claus
Am 21. Aug. 2019, 12:09, um 12:09, "Landkammer, Joachim via Philweb"
<philweb(a)lists.philo.at> schrieb:
[Philweb]
Naja, "genial gelebt" bringt es wieder in die falsche Richtung...
Auch wenn man natürlich mit dem Wort vorsichtig umgehen muß: aber ich
würde schlicht von "Tragik" sprechen (so etwa wie Georg Simmel von der
"Tragödie der Kultur" gesprochen hat).
Unser westlich-aufgeklärtes,
auf
den bekannten Werten des rationalen
selbstbestimmten Individuums
beruhendes Leben gerät in den Konflikt mit einer Natur und einer
(Um-)Welt, die eben eher genügsame, ihren biologischen Instinkten und
Selbstdezimierungsprozessen (Viren, Gendefekte und sonstige
überlebenshinderliche Schwächlichkeiten) unterliegende Spezies
toleriert, als eine solche die kraft ratio und Technik sich von (fast)
allen natürlichen "Feinden" und
Feindschaften (denn das ist die andere
Naivität der kleingeistigeren unter den
Öko-Aposteln: die Natur steht
uns natürlich viel eher feindlich als freundlich gegenüber: ich sage
nur Zecken, Heuschrecken und Disteln!) unbesiegbar und damit sich "die
Erde untertan macht", und zwar in einem
megalomanen Ausmaß, den das
etwas unvorsichtige Bibelwort wahrscheinlich nie ahnen konnte.
Aber angesichts der komplexen historischen, geistesgeschichtlichen,
ethischen und nicht zuletzt anthropologischen Voraussetzungen und
Verstrickungen, die zu diesem tragischen Konflikt geführt haben und
führen mußten, nun zu meinen, es genügten einfache "Umkehr"-Predigten
und Verzichts-Appelle (die ja sowieso letztlich meist neidgesteuert
sind, weil "verzichten" sollen ja bloß immer die anderen), scheint
mir,
wie gesagt, naiv, fragwürdig, falsch... Solche
Praxen wie das, wofür
symbolisch die katholische Ablaßidee steht, leisten hingegen zumindest
eines: sie belasten unseren unweigerlich schuldhaften Lebenswandel mit
einer unaufhebbaren Hypothek der Insuffizienz (DAS
wäre nämlich mein
Schlagwort gegen Paechs neo-rousseauistische "Suffizienz"-Idee!), des
Ewig-Ungenügenden, ohne aber diesen Lebenswandel gänzlich unmöglich zu
machen: man "darf" trotzdem weiterleben, in selbst-bestimmter,
selbst-verantworteter Schuld, Demut und Fallibilität - anstatt auf
andere zu deuten, denen man Vorschriften zum einzig wahren und
"reinen"
Lebensführung macht, um selbst nichts tun zu
müssen.
So ungefähr hatte ich mir das gedacht mit diesem "laizistischen
Neo-Katholizismus"... aber sicher bin ich mir selbst natürlich auch
nicht ganz...
Joachim Landkammer
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Philweb <philweb-bounces(a)lists.philo.at> Im Auftrag von Karl
Janssen via Philweb
Gesendet: Mittwoch, 21. August 2019 09:41
An: Philweb(a)lists.philo.at; K. Janssen <janssen.kja(a)online.de>
Betreff: Re: [Philweb] Die Lust am Schweigen
[Philweb]
transmitted from iPad-Client
Am 21.08.2019 um 01:40 schrieb K. Janssen via
Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Am 20.08.2019 um 23:27 schrieb Landkammer,
Joachim via Philweb:
[Philweb]
(Ich probier auch nur mal kurz meinen account wieder aus...)
nix da mit "nur kurz ausprobieren" :)) Wir sind froh, endlich wieder
von
Dir zu hören! Und das bei diesem Beitrag, den es erst einmal genau
zu lesen und zu überdenken gilt.
Grüß Dich bestens! - Karl
> Nico Paechs grundsätzliche Endzeit-Ausführungen würde ich evtl.
versuchen, mit
einer Rehabilitation des von ihm als Gegenmodell
genannten, vielgeschmähten Ablaßhandels zu unterlaufen. Denn genau das
war ja der eigentliche, tiefere Sinn des Tauschs
Geld gegen
Sündenerlaß: ein kleiner, überschau-, aber kontrollierbarer Zeitgewinn
angesichts einer eschatologischen (das Lebens- und
Weltzeitende
implizierenden), aber dann doch nie so ganz gewissen
Untergangs-Bedrohung. Die psychologisch schlicht unpräzise und
unterkomplexe Unterstellung dabei ist doch, daß, wer er sich von
seinen
Sünden "freikauft", deswegen danach
einfach kreuzfidel munter weiter
sündigt, daß man also nur Scheinverzicht treibt und lediglich
kosmetische Oberflächen-Selbstkorrekturen vornimmt. Nein, die realen
(auch psychischen) Kosten des "Ablaßgeschäfts" erinnern mich permanent
an meinen ja immer nur provisorisch und temporär
abgemilderten Status
der (Erb!-)Sünde und zeigen mir an, daß ich grundsätzlich (weiter) und
immer "falsch" lebe. Das als
"Doppelmoral" zu bezeichnen (wie NP das
tut), ist selbst eine hoch moralistische Wehklage (auch sie mindestens
so alt wie der lutherische Antikatholizismus), die
verkennt, daß
Menschen eben grundsätzlich diese Dilemmata nicht nur leben, sondern
"sind". Wir SIND ökologisch eigentlich untragbar.
Unter diesem (höchst subtil ausgelegtem) Blickwinkel gesehen, würde N.
Peach vermutlich auch nicht von „Doppelmoral“ in Anbetracht der
offensichtlichen Zwiespältigkeit in der Lebensgestaltung diesbezüglich
beschriebener Bevölkerungsgruppen sprechen. Eher
wohl - und auch da
würde ich ihm zustimmen - wäre das gezeigte Verhalten einer (schon
pathogenen) Ambivalenz zuzuschreiben; eine Zerrissenheit zwischen
unterschiedlichsten konzeptionellen Denkansätzen, Theorien, Statements
zu jeweils aktuellen Problemfeldern der absehbaren
Umweltkatastrophe.
Eine Zerrissenheit, wie sie insbesondere auch bei jenen sichtlichen
Ausdruck annimmt, die unter dem unerträglichen Druck der Erbsünde und
ihrer zwingend darauf folgenden Verfehlungen leiden. Nitzsche
sinngemäß: Die Katholiken - sie sehen mir alle so wenig erlöst aus!
Welch Parallelen sich hier doch auftun! So wird „Ablasshandel“
tatsächlich zum Gnadenakt für uns Erdenkinder - genial gelebtes „amor
fati“.
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
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