Am 23.07.2022 um 16:12 schrieb Ingo Tessmann über PhilWeb:
Am 20.07.2022 um 22:55 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb
<philweb(a)lists.philo.at <mailto:philweb@lists.philo.at>>:
Ich verstehe nun wirklich nicht mehr, was Du mir diesbezüglich
vorhältst!
Du schreibst: Die „Äquivalenz von Energie und Masse“ hebt Nöltung in
seinem Grundkurs hervor.
Ich schrieb: Um es eindeutiger auszudrücken hätte ich es nicht als in
Klammern gesetzte Nebenbemerkung, sondern explizit die Tatsache
beschreiben sollen, dass in Einsteins Gleichung E = mc^2 die Masse
(m) und Energie (E) äquivalente physikalische Größen sind und
ineinander umgewandelt werden können ...
Hi Karl,
unser andauerndes Aneinandervorbeischreiben begann mit dem Versuch
eines übergreifenden Verständnisse von Paramecien und Saug-Robotern.
Während Du es im Informationismus siehst, halte ich allgemein die
Stochastik und spezieller die Theorie Dynamischer Systeme für
geeigneter, die als Spezialfälle auch Reaktionskinetiken und
Informationstheorien enthält. Als ersten noch stark vereinfachten
Ansatz brachte ich im Rahmen Dynamischer Systeme das Prinzip der
„variational free energy“ ins Spiel. Die Stochastik scheint mir auch
einem Verständnis von „Psyche und Physis“ angemessen, um zu einer
nicht nur begriffsgymnastischen „Theory of Mind“ zu gelangen.
Eigentlich schreiben wir beide recht oft aneinander vorbei, was insoweit
erstaunlich ist, weil wir m. E. im Bereich der Naturwissenschaften
deutlich kongruente Ansichten haben, soweit diese sich auf eindeutig
definierte physikalische Grundlagen beziehen. Du übersteigst diesen
Bereich so gut wie nie in Richtung metaphysischer Betrachtungen, die Dir
offensichtlich zu schnell in religiöse, esoterische oder sonstig
spirituelle Bereiche abdriften.
Wie ich es oft auch schon Waldemar geschrieben habe, hat diese
Abgrenzung dort eine durchaus berechtigte und gesellschaftlich wertvolle
Geltung, wo diese fragwürdigen Ausprägungen von Spiritualität etc. dem
Geist der Aufklärung entgegen stehen.
Metaphysik an sich ist eben nicht esoterische „Spintisiererei“ sondern
vom Grundsatz und seiner wissenschaftlichen Definition her gesehen, eine
bedeutende Grunddisziplin der Philosophie, die sich in ihrem
Kernverständnis der Frage nach basalen Verursachungen und deren jeweils
mögliche Begründbarkeit zuwendet. Es sind nicht Fragen nach bekannten
(mehr oder weniger geklärten) naturwissenschaftlichen Fakten, sondern
eben jene, die jenseits dieser faktischen Lebenswelt liegen.
Ich denke, dass es vom Typus eines Menschen abhängt, ob er sich solchen
Fragen zugezogen fühlt oder eben nicht. Dich zähle ich zu letzteren und
wo sollte dabei das Problem liegen. In unserem Diskurs würde es zu einem
ernsthaften Problem führen, wenn ich Dir diese Eigenart (z.B. als
selbsternannten Methodiker ) verübeln würde, wenngleich ich sie als eine
gewisse selbst gewählte Deprivation werte, da in meinen Augen die Welt
weitaus mehr als ein streng methodisch aufgebautes System ist.
Stringente Methodik sehe ich als rational notwendige Rahmenbedingung,
innerhalb derer sich Mannigfaltigkeit solange entwickeln kann, als sie
eben an die Grenzen des Machbaren stößt (wie wir das an den Problemen
ungehemmten Wachstums – wie dieses vornehmlich von Ökonomen und blindem
Konsum vorantrieben wird – erkennen müssen).
Definitiv nicht im Bereich von Metaphysik bewegen wir uns hinsichtlich
des Informationsbegriffs. Selbst wenn mein Bezug darauf – ungeachtet
meines Spruchs „it’s all about information“ - vornehmlich
philosophischer Natur ist (wie oft hier beschrieben) handelt es sich
nicht um „Informationismus“.
Wenn Du nun die Stochastik und (spezieller) die Theorie Dynamischer
Systeme mit deren Reaktionskinetiken und Informationstheorien als
geeigneter ansiehst, um Information in ihrer grundsätzlichen Bedeutung
zu definieren, stößt Du mit dem Hinweis auf das Prinzip der „variational
free energy“ erst recht in eine hochabstrakte Thematik vor, die eine
Diskussion hier als wirkliche Herausforderung geraten lässt.
Ich hatte mich vor einiger Zeit intensiv mit Karl Friston’s „Free Energy
Principle“ beschäftigt und auch einige diesbezügliche Anmerkungen hier
eingebracht, die Notwendigkeit zutreffender Inferenzenbildung betreffend.
Aber auch bei diesem Prinzip geht es um Information, genauer gesagt, um
Freie Energie als ein informationstheoretisches Maß, nämlich um Entropie
(die ein Maß für Unsicherheit resp. Unwissen) ist.
Dabei geht es im Ergebnis dann (wie Du schreibst) um Stochastik, also um
die Überraschung (Neuigkeitswert der Information), die einer
Wahrscheinlichkeitsverteilung bzw. -dichte entnommenen wird. Eine Dichte
mit niedriger Entropie (hoher Informationswert) bedeutet, dass das
Ergebnis (z.B. das Resultat eines betrachteten Sachverhalts) im
Durchschnitt relativ vorhersehbar und damit eine deutlich zuverlässigere
Inferenz zu erwarten ist.
Im Kern geht es hier auch wieder um Gleichgewichtssysteme (Homöostase
als Prozess zur Grenzen wahrenden Regulierung der inneren Umgebung eines
offenen oder auch geschlossenen Systems), über die wir zuletzt
diskutiert haben.
Bei diesem „Free Energy Principle“ handelt es sich um Kerntheorien der
neuronalen und biologischen Forschung, also um Informations- und
Steuerungstheorie sowie um Fragen zum neuronalen Darwinismus
(mikroskopisch gesehen um Quanten-Darwinismus, wie von mir kürzlich
erwähnt).
Prognosefehler (fehlerhafte Inferenz) können nach dem
„Freie-Energie-Prinzip“ minimiert werden. Das ist leicht hingeschrieben
aber eigentlich ein hochkomplizierter neuronaler Prozess, wonach
adaptive Agenten ein begrenztes Repertoire an Zuständen einnehmen und
daher den langfristigen Durchschnitt der Überraschung (Neuigkeitswert
der sensorischen erfassten Information = Wechselwirkung mit der Umwelt)
minimieren. Dieses Minimieren (von Überraschungen) verringert die
natürliche Tendenz zur Entropie-Erhöhung, d.h. lebenserhaltend resp.
verlängernd der wachsenden „Unordnung“ zu widerstehen.
Wahrnehmungsvorhersagen beruhen auf früheren Erwartungen/Erfahrungen,
die erworben oder angeboren (epigenetisch) sein können und daher einem
Selektionsdruck (neuronaler Darwinismus) unterliegen.
Die Art, wie man Wahrnehmung nach der Theorie des „Free Energy
Principle“ versteht, optimiert also Vorhersagen (Apperzeption) durch
Minimierung der freien Energie in Bezug auf synaptische Aktivität
(Wahrnehmungsschlussfolgerung), Wirksamkeit (Lernen und Gedächtnis) und
Erkenntnisgewinn (Aufmerksamkeit und Hervorhebung).
Man könnte es als ein Prinzip von (energiesparender) minimierter
Redundanz verstehen, als ein Prinzip effizienter Codierung, das durch
probabilistische Verallgemeinerung resp. Vereinfachung funktioniert.
Ein hochinteressantes Prinzip also, und könnte womöglich ein Durchbruch
(als „Quantensprung“) in der Gehirnforschung sein. Doch zunächst ist
dieses Prinzip nur jenen hinreichend verständlich, die sich mit den
angesprochenen Methoden der Stochastik auseinandergesetzt haben resp.
den Forschenden, deren Spezialgebiet die Neuro- und
Informationswissenschaft ist.
Ich weiß nun nicht, ob es sinnvoll ist, hier weiter darüber zu
diskutieren, da wir ohnehin schon reichlich abstrakt in unserer Thematik
zu Psyche und Physis geworden sind.
Was sagt die Runde dazu?
Bester Gruß an Dich und in die Runde! - Karl
Ach so - es geht noch etwas weiter .....
Nach Variationsprinzipien hatten ja schon Leibniz und Euler die Natur
zu verstehen gesucht, woran Du mit Deiner Bemerkung anzuknüpfen
schienst: „Zum Glück leben wir — bestens und fein angestimmt — in
einer von Materie getragenen aber eben nicht auf sie gründenden — Welt
resp. Universum.“ Für Dich gründet Materie auf Information, wobei Du
aber nicht hinreichend präzisieren konntest, was darunter jeweils zu
verstehen sei. Deshalb hielt ich Deine Ausführungen für bloße
Begriffsgymnastik.
Es ist zunächst eine philosophische Annahme im Sinne der Platon'schen
Ideen, die durch Aristoteles' Prinzip von Potenz und Akt in Form
gebracht, d.h. verwirklicht werden. Naturwissenschaftlich präzisieren
lässt sich das kaum mit ein paar Zeilen. Daher die von mir skizzierte
"Entwicklungskette" (meinetwegen ohne Gaia zu sehen).
Es ist nicht unbedingt Aufgabe der Philosophen, Naturwissenschaftlern
partout etwas zu verdeutlichen , wozu letztere schlichtweg keinen Bezug
haben. Dennoch gibt es großartige Denker, die interdisziplinär solches
unternommen haben. Ob man sie nun als "Sprücheklopfer" diskriminiert
oder nicht. Mehrheitlich sind Denker wie Schrödinger, C.F. v Weizsäcker,
J.A. Wheeler, Feynman, Everett, D. Bohm, Sheldrake, H.P. Dürr, H.
Strapp, E. Laszlo (und viele mehr) als ganzheitlich forschende Menschen
anerkannt und (einige bereits) in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen.
Wie gesagt: Die Welt ist mehr als pure (mathematische) Methodik; der von
dieser gesteckte Rahmen will/soll mit vielfältigstem Leben gefüllt sein,
das nicht mit dürren mathematischen Formeln zu beschreiben ist. Das ist
eben das Phänomen der Emergenz - wer wollte an diesen Tagen in
Abermilliarden H2O- Molekülen und nicht in erfrischend kühlen Fluten baden!?
Ich halte die Energie für grundlegender als Information und Materie,
wobei Du die Äquivalenz von Energie und Masse ins Spiel gebracht
hattest mit der Frage: „Doch ohne mich zu verrenken frage ich Dich,
wie „blinde“ Energie etwas zu formen vermag. Was ist da bei der
Äquivalenz von e=mc^2 (also e und m als äquivalente physikalische
Größen sowie c^2 als kinetische Energie einer relativistisch bewegten
Masse) die formende und nicht nur „blind“ schiebende oder „stoßende“
Kraft?“
Mir war nicht klar, worauf Du mit der Äquivalenz von Energie und Masse
hinaus wolltest. Dass die Energie nur als stoßende Masse verstanden
werden könne?
Ich hatte den Ausdruck mit der "stoßenden Masse" - soweit ich mich
entsinne - nicht ursprünglich hier eingebracht. Im Gegenteil, er
irritierte mich und daher meine Replik auf eine mir unsinnig
erscheinende "blind" schiebende/stoßende Kraft. Wer ist da der Schieber?
Etwa ein unbewegter Beweger?
Und was hatte das mit Deinem Verständnis von Materie
zu tun? Deshalb
folgte ich dem in der Physik verbreiteten Verständnis von Materie als
Ruhemasse, wobei die Ruhemassen beim Annihilieren ja in
Energie verwandelbar sind und es umgekehrt bei der Paarerzeugung
funktioniert. Ähnliches geschieht beim radioaktiven Zerfall, der
Kernspaltung und -Fusion. In jedem Fall geht es um Umstrukturierungen,
die der Energie inhärent sind. Bei chemischen Reaktionen bleiben die
Ruhemassen erhalten, wobei es die Energie ist, die die Atome zu
Molekülen strukturiert oder formt.
Ob nicht besser von Masse allgemein anstatt von Ruhe- und
Bewegungsmasse geschrieben werden sollte, thematisiert Noack mit
seiner Frage: „Was ist eigentlich eine `Ruhemasse'?“
http://www.itp.uni-bremen.de/~noack/masse
<http://www.itp.uni-bremen.de/%7Enoack/masse>
Das muss ich mir mal in Ruhe durchlesen.
IT
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