Am 10.12.2017 um 18:44 schrieb Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Und was ist mit Dingen, die ganz offensichtlich *nicht* reproduzierbar sind?
Hi Rat Frag,
diskutieren kann man über alles und es bedarf auch keines Einverständnisses, wie beim
Argumentieren für etwas.
Gestatten Sie mir einen Exkurs?
Wir können astronomisch beispielsweise die Hubble-Expansion feststellen,
weil wir die Rotverschiebung ferner Objekte beobachten konnten. Es wird
aber - so habe ich einmal in einem ernsthaften physikalischen Artikel
gelesen - eine kosmische Epoche geben, in der die einzelnen Galaxien so
weit vonander entfernt sein werden, dass keine Rotverschiebung mehr
festzustellen sein wird.
Genau dem selben Problem begegnen wir bei anderen Wissensfragen mit
*historischen* Aspekt. Sei es die Evolutionsgeschichte der Menschheit oder
irgendwas, das sich im Laufe der Menschenheitsgeschichte abgespielt hat.
Man kann die Ermordung Cäsars nicht reproduzieren.
Dieser Absolutismus, der nur das Messen, Experimentieren usw. und auf der
anderen Seite die nackte Beliebigkeit sieht, scheint mir falsch. Ich habe
ihn einer Zeit lang auch angehangen. Er ist aber aus verschiedenen guten
Gründen nicht empfehlenswert.
In Übriegen besteht ein naturwissenschaftlichen Experiment grade darin,
dass man bestimmte Umwelteinflüsse systematisch ausschaltet.
Lorenzen unterscheidet z.B. zwischen mathematischem, technischem, historischem und
politischem Wissen. Menschheitsgeschichte, Evolution und Kosmologie unterfallen dem
historischen Wissen, das allerdings die vorhergehenden voraussetzt, aber selbst weniger
streng mit sich ist. Und in der Beliebigkeit ebenso wie im Zufall können verborgene
Gesetzmäßigkeiten obwalten.
Doch was nützt es mir, wenn ich im Recht bin und der
Rest meiner
Gesellschaft mir nicht recht gibt?
Das unterscheidet halt Demokratie von Wissenschaft und Du kannst nur auf Toleranz und
Minderheitenschutz hoffen.
Die
Wissenschaft schafft Wissen, das stimmen sollte. Das ist die einzige
Voraussetzung. Erreicht wird das durch Konsistenz und Reproduzierbarkeit
mit der Folge funktionierender Technik und wahrscheinlicher Prognosen.
Entschuldige, aber das kann ich so nicht stehen lassen.
Wissen ist im Normalfall so definiert, dass es stimmt und die Wissenschaft
sucht nach der Wahrheit.
Aber wie willst du aus dieser Voraussetzung bereits etwas ableiten?
Dass ich mich beim Argumentieren auf Wissen verlassen und rasch Einigkeit darüber erzielen
kann.
Ich wollte mit der Formulierung auf das Schaffen, das Tun und Konstruieren in der
Wissenschaft hinweisen und zudem auf Max Frisch anspielen, der in seinem unterhaltsamen
Buch „Don Juan und die Liebe zur Geometrie“ dem „Lebemann" eine Ehrfurcht vor einem
Wissen, das stimmt, zuschreibt. Ich finde nämlich, dass dem stimmenden Wissen oder der
wissenschaftlichen Wahrheit viel zu wenig Ehrerbietung entgegengebracht und stattdessen
viel zu viel ideologischer oder religiöser Schwachsinn geglaubt oder für heilig gehalten
wird. Und das verhindert ja auch außerhalb der Wissenschaft zumeist jegliches sinnvolle
Diskutieren geschweige denn Argumentieren.
> In Alltagssituationen wird ja so häufig aneinander
vorbei geredet, weil
> sich die Teilnehmer zuvor nicht auf einen gemeinsamen Rahmen geeinigt
> haben. Die Mathematiker machen vor, wie man es besser macht: Definition,
> Satz, Beweis bzw. Worum geht es? Wie verhält es sich damit? Warum ist das
> so?
Ich wiederhole den Einwand: Die Mathematik hat ihren
*Gegenstandbezug*
aufgegeben. Es geht nicht mehr um die Frage, ob die Voraussetzungen richtig
oder falsch sind, sondern man setzt die Axiome voraus und wenn man unter
anderen Axiomen arbeitet, dann arbeitet man eben an einem anderen Gebiet.
Etwa "euklidische" vs. "nicht-Euklidische" Geometrie.
Die Mathematik ist ein nützliches Werkzeug für die Wissenschaft. Man
untersucht die Folgen, die aus einer bestimmten Annahme erwachsen,
unberücksichtigt der Korrektheit der Annahmen.
Die Physik beispielsweise geht da ja anders vor. Hier kommt es sehr wohl
auch darauf an, ob die Grundlagen der Schlussfolgerungen auch richtig sind.
Damit ist die Physik sehr viel näher am Beispiel einer realen Diskussion
als die Mathematik. Dies ist jedenfalls meine bescheidene Meinung.
Zunächst ist das, was wir aus der exakten Mathematik für den Alltag lernen können stets
sehr nützlich für das Argumentieren in jeder Situation, sich nämlich zu fragen: Worum geht
es? Wie verhält es sich damit? Warum ist das so? Und bedenke wohl, dass schon das einfache
Zählen und die Statistik für die Demokratie wichtig sind. Jeder sollte in der Lage sein,
aus statistischen Rohdaten haltbare Schlüsse ziehen zu können. Gerade gab es wieder eine
Schreckensmeldung: "Insektensterben: Rückgang um 76 Prozent in Deutschland“.
Angesichts der Rohdaten war das unseriöse Panikmache.
Und dann denk nur mal daran, wie stark Klickhäufigkeiten im Internet uns zunehmend
manipulieren. Auch die hochabstrakte Algebraische Geometrie ebenso wie die Zahlentheorie
spielen im Internet-Alltag eine große Rolle, da Verschlüsselungsverfahren aus ihnen
gewonnen werden. Physik ist für die Hardware grundlegend, Mathe aber für das weite Feld
der Software. Nebenbeibemerkt: Nicht-Euklidische Geometrie spielt eine Rolle für die
Gestaltung der Farbräume in den Computerspielen. Für die Farbphysik hatte schon
Schrödinger seinerzeit die Riemannsche Geometrie herangezogen.
Es grüßt,
Ingo