Am 11.03.2020 um 17:58 schrieb Claus Zimmermann via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
D.h. sie untersucht, was ihre Definitionen implizieren? Man kann - Achtung,
Binsenweisheit - natürlich alles aus einem Wort herauslesen, das man vorher hineingelegt
hat. Aber es wäre doch albern, das als grossartige Entdeckung zu verkaufen. War das nicht
ungefähr Kants Kritik an Beweisen aus Begriffen?
Etwas anderes wäre es, zu sagen: *wenn* du das so verstehst, bedeutet/impliziert das...,
*wenn* du es so verstehst, sagst du damit...Dann geht es nicht um neue Erkenntnisse,
sondern um die Besinnung auf selbst gemachte Zeichenregeln, um nicht auf die Idee zu
verfallen, darin etwas weniger banales zu sehen. Nannte Nietzsche die Sprache nicht
sinngemäß die Metaphysik des kleinen Mannes? (Gedächtniszitat)
Diese "Entzauberung" bezieht sich aber nicht auf "poetischen Zauber".
Der ist ja erfahrbar. Man steht nicht bei genauerer Betrachtung mit leeren Händen da.
Hi Claus,
Nietzsche zählte ja zu den literarischen Philosophen und sah das Christentum als
Platonismus fürs Volk und die Grammatik als Volksreligion an. In der Einteilung der
Analytiker nach Normal- und Idealsprachler könnte er als ein Vorläufer der Normalsprachler
gelten und hielt mit seiner Kritik an dem vielen unsinnigen Gerede nicht hinterm Berg.
Dafür schätze ich ihn. Und die Analytiker insgesamt schätze ich dafür, dass sie zunächst
einmal Sprachkritik üben, egal ob normal oder idealsprachlich. Dabei stelle ich mir gerade
vor, was geschähe, wenn es ähnlich wie bei der Seekrankheit zu Übelkeit und Erbrechen
führte, wenn jemand Unsinn daherredete. Aber leider reagiert unser Hirn bei mentalen
Inkonsistenzen nicht so dramatisch wie bei sinnlichen.
Der Unterschied zu den Naturwissenschaften ist
offensichtlich. Durch Selbstbesinnung wird man nichts über den Siedepunkt einer
Flüssigkeit herausfinden. Insofern bin ich ebenso erstaunt, zu hören, daß analytische
Philosophie sich an der Naturwissenschaft orientiert wie mich der umgekehrte Fall wundern
würde.
Und wenn es nicht um konkrete Erfahrungen geht, was könnten einem dann mathematische
Quantifizierungsmethoden nützen? Mathematik und Erfahrungswissenschaften gehören zusammen,
denn bei Erfahrungen kommt es immer auf Mass und Zahl an. In der Philosophie kann
Mathematik aber nur Thema und nicht Methode sein. (Wittgenstein: In der Philosophie wird
nicht gerechnet.)
Ja, auch (der spätere) Wittgenstein zählt zu den Normalsprachlern, ging aber bei dem
Idealsprachler Russell in die Lehre. Was die Idealsprachler an den Naturwissenschaften so
begeistert, ist die überragende Bedeutung der Mathematik, die die Naturwissenschaftler
immer wieder zu nie geahnten Einsichten und Experimenten anspornt. Warum soll das nicht
auch in der Philosophie funktionieren? Über unsere Sinnlichkeit und unser Tun
hinausgedacht, geht es dabei nicht mehr primär um Quantifizierung, sondern um die
Eröffnung von „Denkräumen“, die weit über den winzigen Horizont der Normalsprache und des
Alltagserlebens hinausgehen. Das ist wahre Bewusstseinserweiterung, also ein genuines Feld
für Philosophen, die sich deshalb auch mit der mathematischen Mengen-, Typen- und
Kategorientheorie auskennen sollten, wie beispielsweise Alain Badiou, der in "Das
Sein und das Ereignis“ den dialektischen Materialismus in ihnen aufgehen ließ. Mathematik
war ihm also nicht Thema, sondern Methode, wobei er besonders von dem sogenannten Forcing
Gebrauch machte, das Cohen beim Bedenken der Kontinuumshypothese zum Durchbruch verholfen
hatte.
Die Gegenüberstellung "Analytische vs. kontinentale Philosophie“ ist nur im Kontext
der Vertreibung vieler führender Intellektueller durch die Nazis zu verstehen, denn ein
wesentlicher Ursprung der Analytiker liegt gerade auf dem Kontinent. Lesenswert dazu:
Friedrich Stadler, "Der Wiener Kreis, Ursprung, Entwicklung und Wirkung des
Logischen Empirismus im Kontext“. Einleitend heißt es darin: "Am Beginn
wissenschaftlicher Philosophie in der Habsburger-Monarchie steht ohne Zweifel der Prager
Volksbildner, Philosoph, Mathematiker und Theologe Bernard Bolzano (1781 bis 1848).“ Der
böhmische „Anti-Kant“ konnte "durch seine Schüler im österreichischen Geistesleben
einen entscheidenden Einfluss ausüben, der sich einerseits in der Thun-Hohensteinschen
Bildungsreform, andererseits in der eher indirekten Rezeption bei Frege und der polnischen
Logikerschule um Kasimir Twardowski niederschlug. Weil der deutsche Idealismus von Kant
bis Hegel in katholischen Habsburgerlanden als revolutionär zurückgedrängt wurde, konnte
Bolzano mit seiner objektivistischen Erkenntnis und Wissenschaftslehre (1837 ff.),
speziell der Theorie von „Wahrheiten und Sätzen
an sich“, die moderne Logik und Mathematik von Tarski bis zum Wiener Kreis antizipieren:
Durch die „semantische Wende“ seiner antipsychologistischen Philosophie prägte er die
Mengenlehre genauso wie Karl Poppers Drei-Welten-Lehre oder Gödels „logischen Realismus“.
Der mathematische Mentor des Wiener Kreises, Hans Hahn, lieferte zum Beispiel Anmerkungen
zu Bolzanos Paradoxien des Unendlichen (1920) und edierte zusammen mit Alois Höfler ab
1913 weitere Schriften des „böhmischen Leibniz“ – wie Bolzano auch genannt wurde.“
Es grüßt,
Ingo