Am 06.03.2022 um 23:22 schrieb K. Janssen via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
„Die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa und der GUS folgten genau dem Kantischen
Script: Die Demokratie breitet sich von selbst aus, weil sie das Herrschaftssystem ist,
das die gesellschaftlichen Anforderungen nach wirtschaftlicher Wohlfahrt und
herrschaftlicher Partizipation, natürlich auch nach Frieden, optimal, wenn auch nicht
maximal, erfüllt.“
Schlichter Trugschluss oder unrealistischer Wunschtraum; es bleibt ein unerreichbares
Ideal, allenfalls ein Appell an die Vernunft, der von den einen beachtet und von den
anderen missachtet wird. Letzteren ist es gleichgültig, ob Kants Friedensschrift Grundlage
für Völkerrechtsordnungen ist. Es gilt – wie immer – das Recht des Stärkeren, wobei nicht
geistige sondern physische Stärke ausschlaggebend ist. Alles diesbezüglich hehre
Schriftgut verliert seine Wirkung, wenn Ideologie (allem voran religiös oder völkisch
motivierte) das gesellschafts- und letztlich militärpolitische Denken und Handeln prägt.
Punkt!
Hi Karl,
Demokratien führen seltener Kriege gegeneinander als Autokratien gegeneinander oder gegen
Demokratien. Beim gegenwärtigen Ukrainekrieg führt ja die Autokratie Russland Krieg gegen
die Demokratie Ukraine — und meiner Ansicht nach, sollte die NATO unter Berufung auf die
Menschenrechte dort ebenso entschieden eingreifen wie seinerzeit gegen Serbien. Gegen
Kriegsverbrecher helfen keine Schriften, das sehe ich wie Du. Ein kritisches Working Paper
dazu verfasst hat Sven Chojnacki: „Demokratien und Krieg: Das Konfliktverhalten
demokratischer Staaten im internationalen System, 1946-2001“:
https://www.econstor.eu/bitstream/10419/49855/1/374158142.pdf
<https://www.econstor.eu/bitstream/10419/49855/1/374158142.pdf>
Im Kontext der Europaidee behandelt wird Kant in: „Die Europaidee im Zeitalter der
Aufklärung"
https://books.openbookpublishers.com/10.11647/obp.0127.pdf
<https://books.openbookpublishers.com/10.11647/obp.0127.pdf>
Darin heißt es bspw. „Ausgehend von dem Projekt eines immerwährenden Friedens in Europa
konzipiert Kant die Idee eines universellen Friedens, der auf Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit und der Vernunft basieren solle. Im Gegensatz zu Saint-Pierre gehen Kants
Reflexionen weniger ins Detail, sondern entwerfen vielmehr eine generelle Philosophie des
Rechts.“ Aber wie könnte genauer Völkerrecht aus Bürgerrecht hervorgehen? So wie aus
Menschen Institutionen werden können?
Ausführlicher behandelt wird Kants Friedensschrift von Oliver Hidalgo in: „Kants
Friedensschrift und der Theorienstreit in den Internationalen Beziehungen, VS Verlag 2012.
Bezug genommen wird darin auch auf Bruce Russett , John R. Oneal: "Triangulating
Peace. Democracy, Interdependence, and International Organizations", New York ,
London 2001. Darin soll im Ergebnis eine Weiterentwicklung der Theorie des demokratischen
Friedens zum `kantischen Frieden’ vorgelegt worden sein, „wobei die Republikanismusthese
des 1. Definitivartikels qua Einbindung der Staaten in internationale Organisationen (= 2.
Definitivartikel) sowie eines zusätzlichen Fokus auf die wirtschaftliche Interdependenz (=
3. Defintivartikel) zur Kantian Triangel erweitert wurde, deren drei Stränge sich
wechselseitig fördern und ergänzen.“
Mir schwebt im Anschluss an die Aufklärung eine „Soziale Physik" vor. Einen Anfang
dazu sehe ich in der Soziodynamik Helbings. Speziell die Verbindung von Energie und
Sicherheit hat Andreas Beyer untersucht in: „Theoretische und methodische Grundlagen zur
Analyse von Energie und Energiesicherheitspolitik“. Unter „Vorgehensweise bei der Analyse
eines Politikfeldes“ setzt er Konzepte, Theorien und Modelle in eine reziproke Beziehung
von Reichweite sowie logischer Stringenz und Spezifizität.
Historische Schemata, wie etwa die zwischen dem Handeln mittelalterlicher Herrscher und
gegenwärtiger Autokraten, haben eine große Reichweite, aber wie stringent sind sie? Und
wie verhält es sich mit der Reichweite höchst spezifischer Hirnmechanismen bspw. zum
Unterscheiden informativer und normativer Konformität? Sieh dazu: "Distinct
neurocomputational mechanisms support informational and socially normative conformity“:
https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.30015…
<https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3001565>
In den Modellen der Soziodynamik sind die Kopplungsstärken in den Interaktionen der
Akteure wie in den Wechselwirkungen zwischen ihren Hirnen abzugleichen mit den empirischen
Erhebungen in der Gesellschaft wie in den Wandlungen in der Bevölkerungsstatistik.
Mehrebenenmodelle, die den Bogen von den Hirnmechanismen bis zur Menschheitsgeschichte
spannen, sind mir nicht bekannt geworden. Insofern können wir nur darüber spekulieren, wie
der Ukrainekrieg weiter voran getrieben wird. Wird es bspw. zu einer Teilung der Ukraine
kommen, wie einstmals bei uns und noch immer in Korea? Könnten die Sanktionen so sehr
verschärft werden, dass Putin sich nicht mehr halten könnte in seinem Land?
Ich sehe den Beginn der Neuordnung Europas bei dem Christo-Faschisten Karl (dem Großen),
der ja als Sachsenschlächter in die Geschichte eingegangen ist. Dem aufgeklärten
Frankenkaiser Napoleon ging es dann um die Zivilisierung Europas. An ihm arbeitete sich
Tolstoi 1869 literarisch in „Krieg und Frieden“ ab, während Bismarck 1870/71 den
militärischen Weg wählte. Beide trugen je auf ihre Weise zum Nationalbewusstsein ihres
Landes bei. Der Untergang der Monarchie in Russland führte ab 1917 in die Sowjetunion
Stalins, während in Deutschland 1933 der Germano-Faschist Hitler durch Hindenburg
eingesetzt wurde. Ganz analog dazu sehe ich den Vorgang, wie 1999 der Slawo-Faschist Putin
durch Jelzin ins Amt befördert wurde. Für Putin ist Wladimir (der Große) das, was für
Macron zum Glück nicht Karl (der Große) ist; denn dann wären die Franzosen schon längst in
Deutschland (und Italien) einmarschiert.
Auf Demos der letzten Zeit wird Putin zu Recht mit Hitler verglichen. Nach dem
Sudetenland, Österreich und der Tschechoslowakei 1938 ging es dann ja 1939 mit Polen
weiter. Putin begann mit Tschetschenien, Georgien, Aserbaidschan, Syrien, der Krim, dem
Donbass und jetzt der ganzen Ukraine. Das Baltikum und Polen werden folgen. Über die
Beschwichtigungspolitik des Westens hatte sich schon Hitler lustig gemacht und Putin wird
sich ebenfalls bloß amüsieren über den dekadenten und schwächlichen Westen. Zudem hat er
die Rückendeckung durch China. Xi wütet schon länger gegen die Uiguren und wird sich
demnächst über Taiwan hermachen.
Kohärent zu meiner gegenwärtigen Stimmung höre ich wieder häufiger den so schönen wie
traurigen Song "Morning Dew“ von Bonnie Dobson, den sie 1961 erstmals öffentlich
vortrug, nachdem der Film "On The Beach“ sie 1959 in die Stimmung zur Komposition
versetzt hatte. Darin geht es um die letzten Überlebenden eines globalen Atomkriegs, die
nur noch im Herannahen der radioaktiven Wolke ihr Ende abwarten können. Ich hörte den Song
erstmals in der Interpretation von „Nazareth", dann von der „Jeff Beck Group"
und letztens von „The Third Mind". Du müsstest ihn auch kennen, nehme ich an. Als
Gegenstück zu dieser deprimierend traurigen Stimmung kann der schwarze Humor aus dem Song
von „Geier Sturzflug“ aus dem Jahr 1983 gehört werden: „Besuchen sie Europa, solange es
noch steht.“
IT