Am 08.02.2025 um 17:00 schrieb Joseph Hipp über
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Ein Beispiel: Immanuel Kant nahm die Vernunft als überaus wichtig an, und baute rundherum
die vielen anderen Instanzen auf, für die es schon Wörter gab. Einen gewissen Erfolg hatte
er dabei, auch heute noch wirkt er. Sigmund Freud hätte schreiben können: Wo ist bei Kant
denn das Unbewusste angesiedelt? Hat er es vergessen? Und Karl könnte fragen: Wo war bei
Kant die überaus wichtige Information? Nebenbei bemerkt: Kant konnte genauso gut denken
mit der Annahme der Existenz Gottes als ohne sie. Zweifler könnten fragen: Wo ist denn
heutzutage der Mangel an Urteilskraft bei den Menschen? Das dazu übliche Wort zu nutzen
wäre gerade heutzutage eine Beleidigung für denjenigen, dem sie fehlt.
Hi JH,
ja, für Kant war Vernunft wichtig, aber wurde er nicht primär durch Humes Analyse der
Kausalität aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt, wie er in der Vorrede zur
„Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten
können“ schrieb? Nach meinem Verständnis kritisierte Kant Hume mit dem Vorurteil von der
Wichtigkeit der Vernunft. Wenn Kausalität nicht in der Erfahrung zu haben sei, dann solle
sie zumindest der Vernunft genügen. Aber wie weit war er damit gekommen? Von Weizsäcker
und Lorenzen bspw. haben je auf ihre Weise wieder an Kant angeknüpft.
Alltägliche Rahmen und Vorurteile werden in der Philosophie ja auch Paradigmen und Themata
genannt. Nach Kuhn sind mit Paradigmen die metaphysischen Überzeugungen und
forschungspolitischen Annahmen gemeint, die den Entwurf von Theorien und die Planung von
Experimenten leiten. Und nach Holten bezeichnen Themata eher die individuellen Neigungen
der Forscher: „Einer der Befunde der thematischen Analyse, der mit der dialektischen Natur
der Naturwissenschaft als einer öffentlichen, einen Konsens anstrebenden Tätigkeit in
Beziehung steht, ist die häufige Koppelung zweier Themata im Modus der Antithese, wenn
etwa ein Vertreter des Themas des Atomismus sich einem Vertreter des Themas des Kontinuums
gegenüber sieht’’.
Weil im Zuge der Aufklärungsbewegung die Vernunft hervorgehoben wurde, unterfiel Kants
„Kritik der reinen Vernunft“ dem Aufklärungsparadigma, so dass er neben der Vernunft die
Anschauung für ebenso wichtig hielt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne
Begriffe sind blind. … Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu
denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen“. Was Kant nach
Lorenzen wesentlich vernachlässigte war die Tätigkeit und nach von Weizsäcker die
Ja-Nein-Entscheidung. Lorenzen entwickelte den methodischen Konstruktivismus und von
Weizsäcker die Ur-Theorie, wobei nach Lyre gesagt werden kann: „Ur-Alternativen
repräsentieren den Informationsgehalt einer möglichen Ja-Nein-Entscheidung, also 1 bit
quantentheoretisch behandelte potentielle Information (Quantenbit).“
Kant und Freud genügten neben dem Aufklärungsparadigma dem der Newtonschen Physik, während
Lorenzen und von Weizsäcker darüber hinaus gingen, indem sie dem der konstruktiven
Mathematik bzw. dem der Quantenphysik folgten. Waren ihnen die Worte „Methode“ und
„Konstruktion" bzw. „Entscheidungen“ und „Quanten“ wichtig oder kam es ihnen eher
darauf an, ihre jeweils ausgeführte Kritik von Mathematik und Physik tätig auf die
Philosophie zu übertragen? Und welchen Rahmen sprengte Freud eigentlich, der ja die
Theorie der Psychoanalyse entwickelte aus der Struktur eines psychischen Apparats und den
Grundtrieben Eros und Thanatos?
IT