Hi JL,
die Biorhythmen sind so alt wie das Leben selbst. Sie zu wandeln dürfte schwierig sein auf
diesem Planeten, an dem sie angepasst sind. Dauerhaft in einem gleichbleibend hellen
Technotop zu leben, dürfte nicht gerade gesundheitsfördernd sein. Es sind viele
Experimente in Schlaflaboren durchgeführt worden, die von sensorischer Deprivation über
das Dauerdunkel bis zur Dauerhelle reichten. So weit ich mich erinnere waren alle
befristet und mussten zum Teil abgebrochen werden.
Beim Max-Planck-Institut für experimentelle Endokrinologie ist zu lesen: „Tiere und
Pflanzen haben im Laufe der Evolution innere Uhren entwickelt, die dem Körper auch in
Abwesenheit äußerer Einflüsse Zeitinformationen liefern. Damit können sie ihr Verhalten
und wichtige Stoffwechselfunktionen optimal an die im Tagesverlauf veränderten
Umweltbedingungen anpassen. Die Zentraluhr der Säugetiere befindet sich im
suprachiasmatischen Nukleus (SCN) des Hypothalamus; sie koordiniert untergeordnete Uhren
im ganzen Körper.“ Mehr dazu im Artikel: „Molekulare Mechanismen zirkadianer Uhren“ von
Henrik Oster. Die Chronobiologie ist ein weites Feld und wird auch in der evolutionären
Medizin behandelt.
Aber Du neigst ja eher zum Spielen mit Argumenten anstatt Naturnotwendigkeiten zu
akzeptieren. Für mich ist Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit. Denn der circadiane
Rhythmus wirkt in einem Organismus in einem fein abgestimmten Gefüge weiterer Biorhythmen
bis hinunter auf die molekulare Ebene. Insofern wirst Du den Biorhythmen nicht entkommen,
sie aber modulieren können. Für Schicht- und Nachtarbeiter ist das ja selbstverständlich,
aber nicht gesundheitsfördernd.
Als ökoliberaler Befürworter alternativer Lebensformen sind mir die der Profitgier und dem
Machtstreben folgenden naturzerstörerischen Zwänge nicht nur spielerisch zuwider, da ich
sie alltäglich zu erleiden habe. Zu entkommen suche ich also nicht den Bio-, sondern den
Soziorhythmen, die mich drangsalieren, aber prinzipiell änderbar sind. Nach wie vor folge
ich der Maxime der Kritischen Theorie, die Gesellschaft nach Maßgabe des technisch
Möglichen zu verbessern, so wie es bspw. Rahel Jaeggi formuliert hat in ihren Büchern:
„Kritik von Lebensformen“ (2014) und „Fortschritt und Regression“ (2023). Den Biorhythmen
entfliehende Lebensformen führen eher in die Regression als dass sie gesellschaftlichen
Fortschritt ermöglichten. Soziorhythmen dagegen, die viele unserer Gewohnheiten bestimmen,
suche ich seit meiner Pubertät zu überwinden, stoße aber immer wieder schnell an soziale,
nicht an biologische oder technische Grenzen. Mich stören die vielen Fossiljunkies sehr
viel mehr als die wenigen Biorhythmiker.
IT
Am 22.08.2024 um 21:20 schrieb Landkammer, Joachim
über PhilWeb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
Hi Ingo,
kein Hinweis auf die überlebensnotwendige Sozialität und „Naturalität“ des Menschen kann
die Tatsache verleugnen, daß der Mensch (als vernunftbegabtes, „geistiges“ Wesen) all
seinen biologischen und sozialen Konditionierungen auch weitgehend entkommen kann,
jedenfalls nicht von ihnen durchgängig determiniert ist. Sind nicht individuelle
„Biorhythmen“ vorstellbar, die eben nicht dem 24-Stunden-Erdrotation entsprechen? Gerade
unter heutigen Bedingungen, wo menschliches Wachsein nicht mehr vom Sonnenlicht abhängt,
könnte man sich vollkommen individuelle „Tages“-abläufe, also individuelle – auch je nach
körperlichem Zustand wechselnde! - Wach- und Schlafzeiten vorstellen, die vollkommen
„quer“ zum konventionellen 24-Stunden-Schema liegen (man könnte etwa, als Minimalvariante,
diese „Schaltstunde“ der Zeitverkürzung, die man jetzt immer beim Wechsel zur „Sommerzeit“
hat und die ja keinen wirklich „stört“, alle sieben Tage einbauen, und würde so nach 24
Wochen einen ganzen „Lebenstag“ dazugewinnen…). Ein bewußt über SEINE Zeit verfügender
Mensch könnte, anstatt naiv-konformistisch mit dem sozial anerkannten Normalo-Zeitstrom zu
schwimmen, sich seinen ganz eigenen Lebensrhythmus bauen (also so, daß er dann halt
manchmal aufsteht, wenn die anderen gerade ins Bett gehen, mal „zu Mittag“ ißt, wenn die
anderen gerade beim Frühstück sind, usw.). Gab´s nicht mal dieses Experiment mit
Versuchspersonen, denen man irgendwo untertage länger jeden Zugang zum Wissen vom
„natürlichen“ Erd-Zeit-Ablauf verweigert hatte, um zu sehen, welches „Zeitgefühl“ dann
einstellt? Was kam da raus?
(Meine Beispiele mit Pünktlichkeitsaversion und Flugangst bitte ich nur als Beispiele
(für mögliche Argumentationen) zu verstehen, ich rede hier nicht über mich).
JL