Liebe philwebler,
ein kurzer Einwurf zum Thema Wirklichkeit und Wahrheit:
Den Begriff Wirklichkeit hat Meister Eckart ins Deutsche eingeführt,
übersetzt aus actualitas. Darin ist actus enthalten, ähnlich wie im
griechischen Pendant energeia Handlung / Werk als ergon. Ruth Kastners
versteckter Teil des Eisbergs kann besser als zu Grunde liegende
ermöglichende Wirkmacht angesehen werden, für die wiederum die
artikulierte, indem verwirklichte Klarheit der Aktualität (noch) nicht
gegeben ist. Potenzen sind zukunftsoffen und noch nicht abschließend
bestimmt.
Verallgemeinerungen beziehen sich auf verallgemeinerbare Aspekte des
Verwirklichten, Begriffe, Sprache und Zeichen setzen an
verallgemeinerbaren Aspekten des Verwirklichten an. Sie sind für den
Zugang zum implizit zeithaltigen Möglichen, Wirkmächtigen und der
Ebene der Ansammlung wirkmächtiger Handlungsquellen alias „agencies“
als „creative action forces“.
Anders als in einer Menge distinkter, fixer oder nur auf bestimmten
Schienen beweglicher Elemente / Variablen ist das Wirkmächtige noch
nicht artikuliert, daher noch nicht abschließend bestimmt.
Allem Verwirklichten muss aber zugleich im Hinblick auf dessen
mögliche weitere Entwicklung (das heißt, sobald Zeit und Zeitlichkeit
in die Betrachtung eingeführt werden) Potenzialität / mögliche
Wirkmacht zugesprochen, das heißt es muss ihm gedanklich „Leben“
eingehaucht werden.
Die gedanklich verabsolutierende Trennung von Verwirklichtem und
Möglichem führt zu dem, was in den Neurowissenschaften disembodied
spirits und umgekehrt entseelte Welt und Wirklichkeit, uninspired
reality genannt werden könnte.
Die Idee, dass der Wahrheitsgrad mit dem Grad der Auflösung steige,
ist ein Irrtum: Kastners Quantenwelt ist nicht „wahrer“ als die
Atomwelt, und diese nicht „wahrer“ als die Welt der Moleküle etc. etc.
Wahrheit ist nach meinem Ansatz das jeweilige Innen einer Interaktion,
ihre Geltung ist auf diese Interaktion und alle weiteren
Interaktionen, in die diese Inteaktion eingebunden ist beschränkt,
bzw. sie entsteht zeitweilig aus dieser und diesen. Sie ist zwingend
kontextuell, beinhaltet die Perspektiven der an der Interaktion
Beteiligten.
Ihr allgemeingültiges Strukturprinzip allerdings kann benannt werden,
es ist das "miteinander zu einem dem Grunde nach möglichen Gemeinsamen
hin Handeln“, somit das Prinzip möglicher Verbundenheit und Einigung,
möglicher Konvergenz, Synergie, communio, Liebe und was der Ausdrücke
und Bilder mehr sind.
Ganzheit, das als Letztes umfasst immer das Verwirklichte und das
Ermöglichende, wobei das Konzept von Mengen, die aus finiten Elementen
gebildet werden nur für das Verwirklichte, Artikulierte, manifest
Gewordene greift. Möglichkeine haben keine scharfen Ränder, sie laufen
ja auf noch nicht klar sichtbare / vorwegzunehmende Interaktionen
hinaus, die wiederum zufällige Assoziationen von ermöglichenden
Quellen zur Voraussetzung haben. Daher haben Ganzheiten stets einen
„imaginären“ Anteil, wie im hier ausführlich und sehr hilfreich
diskutierten Bild der semantischen Achse beschrieben.
Viele Grüße aus dem fernen Taiwan, in dem - für Westeuropäer ungewohnt
- vielgöttrige Spiritualität ungebrochen eine Alltagsrolle spielt.
Thomas
Am 02.09.2025 um 06:56 schrieb Karl Janssen über
PhilWeb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
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Am 01.09.2025 um 15:56 schrieb waldemar hammel
über PhilWeb
<philweb(a)lists.philo.at>at>:
Am 31.08.2025 um 04:28 schrieb Karl Janssen über PhilWeb:
Absolut erfreulich, dieser rege Austausch hier in unserem philweb!
Offen gesagt, habe ich „alle Hände voll zu tun“, um den Diskursen
hier zu folgen. Geschweige denn, auf den einen oder anderen Beitrag
näher einzugehen und in einen Dialog einzutreten.
Ratfrag hinterfragt eine alte Klage:
rf: Es ist eine alte Klage. "Wieso gibt es so viele Meinungen, wenn
es doch nur eine Wahrheit gibt?
wahrheiten/unwahrheiten sind stets spektral, weil sie stets nicht
nur vom argument, sondern auch von den kontexten abhängen (ww!), in
die das jeweilige argument eingebracht wird (eine grüne birne ist im
sonnenlicht grün, in anderem kontext zb grünlicht aber weiss)
Das lässt mich an unsere ausgiebigen Diskussionen
über
Wahrheitstheorien denken und meinerseits die Frage aufwerfen, warum
der Begriff von Wahrheit hinsichtlich seiner Beweisbarkeit immer
aufs Neue hinterfragt wird. Wahrheit muss beweisbar sein, doch wie
steht es um Wahrheit, die nicht als solche erkennbar, greifbar oder
ermessbar ist?
ganz einfach: eine wahrheits/unwahrheits-behauptung über eine sache,
die "nicht erkennbar, greifbar, ermessbar " ist, ist schlicht als
argument ungültig (gutes beispiel: "gott")
Das ist geradewegs meine Rede!
Sofern Wahrheit lediglich behauptet wird, muss im
Zweifel diese
Behauptung mit Anspruch eben auf ihre Faktizität bewiesen werden
und nur für den Fall eines hinreichend gültigen Beweises
entspricht das Behauptete der Wirklichkeit, ist somit ein
Wahrmacher der Aussage.
die sog. "wirklichkeit" ist kein gültiges kriterium für
wahrheit/unwahrheit
warum denn nicht? Wirklichkeit ist ein reales Element von Wahrheit.
Ein wirklicher Tatbestand als Grundlage einer entsprechenden Aussage
muss einen allgemeingültigen Sachverhalt und somit dessen Wahrsein,
resp. Wahrheit voraussetzen.
Philosophisch gesehen, sehe ich Ruth E. Kastners Darlegung des
Wahrheitsbegriff als eingängiges Beispiel, wonach Wahrheit
vergleichbar als einen im Ozean schwimmenden Eisberg gesehen werden
kann: Man sieht nur dessen Spitze, nicht jedoch das ganze Ausmaß,
erstere entspricht wahrer sichtbarer und somit erkennbarer Realität,
hingegen der nicht sichtbare Teil als solcher nicht unmittelbar
erkennbar aber dennoch realer Teil der „ganzen“ Wahrheit ist.
Als weiteres Beispiel beschreibt Platons Höhlengleichnis die
Deprivation der Wahrnehmung von Ganzheit, resp. Wahrheit, sofern
diese perspektivisch verdeckt ist, so eben auch mit Bezug auf
höherdimensionale mathematische Formalismen, die - obgleich empirisch
nicht erfassbar - dennoch auf absolut konkrete Existenzebenen hindeuten.
Töricht und dennoch unausweichlich, wenn Bewohner einer fiktiven,
zweidimensionalen, somit flachen Welt die Existenz einer für sie
nicht erkennbaren, höheren Dimensionen ausschließen.
Welche höhere Entität wird oder wollte es unternehmen, uns geistig
deprivierte „Flachländer“ in höhere Dimensionen zu führen?
Meinungen entsprechen zunächst subjektiven
Denkmustern und sind nur
dann wahrheitsgemäße Aussagen, wenn ihre Plausibilität
intersubjektiv zu belegen, resp. objektiv nachzuweisen sind.
Eindeutige Kriterien zur Wahrheitsfindung sind somit plurale
Intersubjektivität unter Einbezug der Methode des Fallibilismus.
ebenso ist "intersubjektivität", das also etwas
intersubjektiv-als-wahr-gilt, kein kriterium für wahr/unwahr (sonst
wäre etwa die nazi-ideologie der hitler-ägide zumindest während
dieser zeit wahr gewesen)
Sicher ist Intersubjektivität kein eineindeutiges Kriterium für
Wahrheitsgemäßheit, dennoch aber ein Werkzeug, um einen Tatbestand
oder Sachverhalt durch kollektive Betrachtungsweise zu objektivieren,
bzw. zu falsifizieren.
Doch
gerade dieses erkenntnistheoretische „Werkzeug“ kann eben auch
keine absolute Wahrheitsaussage im Sinne einer Letztbegründung
tätigen, da immer noch die Möglichkeit eines letzten Irrtums besteht.
"absolute wahrheiten" sind nicht deshalb unmöglich, weil "immer ein
letzter irrtum" darinstecken kann, sondern weil letztbegründungen
(für was auch immer), und zwar prinzipiell, unmöglich sind, weshalb
ich den wahrheitsbegriff gänzlich vermeiden würde, und stattdessen
von wahrscheinlichkeit P(x) reden würde, zb nicht "1+1=2 ist wahr
(P=1)", sondern "unter den rand- und zusatz- bedingungen xyz ist
1+1=spektral-wahr"
Ein durchaus probates Mittel, entscheidend ist letztlich zu erkennen,
dass aus menschlicher Erkenntnis heraus keine absolute Wahrheit zu
ergründen ist.
Philosophisch könnte die Idee der Stoa hilfreiche
Stütze gegenüber
aller überbordenden Geschwätzigkeit, Fake-News, KI-generierten
Narrativen usf. bieten, da sie tief in menschliche Psyche eindringt
und geradewegs dem unstillbarem menschlichen Bedürfnis nach
Neuigkeit, nach Klatsch und Tratsch die besonnene, nüchterne,
faktenbezogene und somit wahrheitsgemäße Wirklichkeit entgegen stellt.
mit dem entscheidenden nachteil jeder "wahrheitsgemässen
wirklichkeit", dass diese als illusion/illusionäre verkennung,
jeweils in unserem hirn erzeugt/zusammengebastelt wird, und wir dann
als hilfskonstrukt noch als weitere (unmotivierte und in der sache
falsche) wahrheitsbehauptung benötigen, die "wirkliche wirklichkeit"
würde mit unserem darüber erzeugten hirnkonstrukt übereinstimmen
Das sind die selbst gelegten Fallstricke der radikalen
Konstruktivisten, die mit ihrem Zweifel an der mentalen Performance
des menschlichen Gehirns am realen Leben scheitern müssen.
Ein „Werkzeug“ also, das auf diese philosophische
Weisheit aufbaut
und somit einen Weg zu hinreichender Selbsteinschätzung weisen
kann, etwa nach dem Beispiel des Marc Aurel, dessen Denkmodell von
einer Allnatur, dieser EINHEIT als einzige WAHRHEIT meiner
Vorstellung von kosmischer Intelligenz entspricht, als eben diesem
Gefühl von Allgeborgenheit „JAHWE“ - ich bin da, oder eben mein ICH
als Teil dieser Ganzheit: Partizipation als Strukturprinzip des
Menschen an sich.
zu bedenken: auch ein marc aurel hat (so sehr ich sein geschriebenes
auch schätze) nur mit wasser gekocht, und "kosmische
intelligenz"/vernunft der natur/innere logik alles seienden/usw sind
lediglich die uralten götter, heute auf moderne sprachregelungen etc
up-gedated und neu poliert als menschen-zuschreibungen (wie an eine
leere wand angehefteter zettelchen-kram/memos) an eine natur, die
zweckeFREI, absichtenFREI, logikenFREI, intelligenzFREI, endzielFREI
ist, und gerade auch deshalb "als leere wand" bestens mit
"menschlichen memorabilien" bekleistert werden kann, welche immer
wieder erneut zu passen nur-scheinen --- dass wir die natur dennoch
ständig mit hirn-erzeugten und dann auf sie projizierten
eigenschaften aufladen, ist für uns allerdings -subjektiv-
überlebenswichtig
zumindest also letzteres, chapeau!
Diese Ganzheit ist aus irdischer Perspektive
nicht als Wahrheit
erkennbar und somit von Menschen nicht beweisbar. Wer nun (einen)
Gott als diese Ganzheit, als die Wahrheit annimmt, wird diesen
nicht beweisen können. Es bleibt nur das Gefühl von Allheit, oder
eben von Allgeborgenheit. Wer sich ihr anvertraut, kann auf
diesbezüglich unzählige Meinungen, Deutungen verzichten, eben im
Vertrauen auf göttliche Allgeborgenheit. „Solo Dios basta“ (Teresa
v. Avila).
du, karl, wirst von deinen geglaubten mythen und legenden, deinen
memo-zettelchen an der leeren natur-wand, wohl nicht mehr loskommen,
obwohl das alles, weil in hirn und psyche festgeklopft, da somit
weit mehr als illusionäre verkennungen, wahn-analoge vorstellungen
und ideen sind
Was soll denn diese blödsinnige Zuschreibung bei mir bewirken? Ich
glaube an keine Mythen und Legenden, an keinen Gott (in herkömmlicher
Weise). Darüber haben wir uns doch bereits verständigt, oder nicht?
Du warst es doch, der von Gott als das Gefühl von Allgeborgenheit
sprach, einer Vorstellung, die mir sehr sympathisch ist.
„Oh my God!“ - so könnte ich nun in diese dämliche Redewendung
einstimmen, wie man sie in einer gottlosen Welt paradoxerweise an
jeder Straßenecke zu hören bekommt. Oder auch ganz einfach: „Mein
Gott - Waldemar!“
* theresia von avila ist mein lieblings-nönnchen, weil sie
(k.h.deschner/kriminalgeschichte d. christentums) aus
gott-ergebenheit ua. das erbrochene von aussätzigen getrunken haben
soll, analog dazu habe ich keine staubsauger mehr, sondern lecke die
fussböden und den hühnerstall mit der zunge sauber (DEUS VULT!), um
in den himmel zu kommen
Dein Hang zur Nekrophilie (im Sinne von E. Fromm) steht meinem Hang
zur Philosophie diametral entgegen. Mehr fällt mir augenblicklich
dazu nichts ein.
KJ
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